Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
wie die Königin. Kaveh war der Erste, der Nill entdeckte. Er stellte die Schale ab, die er in den Händen gehalten hatte, und stand schwungvoll auf. Dann rieb er sich verlegen mit den Händen über die Oberschenkel.
»Hallo, Nill! Hast du gut geschlafen? Setz dich zu uns!«
Nill überwand ihre Scheu und kam zu ihnen. Kaveh machte ihr neben sich Platz und sie setzte sich mit verkreuzten Beinen. Kaveh räusperte sich. »Ich möchte dir meinen älteren Bruder vorstellen – das ist Kejael.«
Der junge Mann mit den dunklen Haaren neigte mit einem freundlichen Lächeln den Kopf. An dem Lächeln erkannte Nill die Verwandtschaft zu Kaveh
– doch abgesehen davon sah er ganz anders aus.
»Guten Tag. Nill heißt du, richtig?«
Nill nickte. »Ja, ja, das ist mein Name.« Ihr wurde erneut bewusst, was er bedeutete – und die Elfen mussten ihn ja alle verstehen! Nill kam sich unge-
mein bloßgestellt vor. Was würde sie denn denken, wenn sich jemand vorstellen und sagen würde: Hallo, freut mich auch, mein Name ist schmutziges Blut …?
Und die Stille, die kurz eintrat, machte es ihr nicht unbedingt leichter, den Elfen in die Gesichter zu blicken.
»Hast du dich ein bisschen erholt?«, fragte Aryjen ruhig.
»Ja, danke. Es geht mir viel besser.«
»Bestimmt hast du Hunger. Hier!« Aryjen erhob sich, ging zum Herdfeuer hinüber und füllte eine Schale mit dem Inhalt des Kessels. »Iss etwas. Kaveh ist darüber hergefallen, als hätte er drei Jahre nichts mehr gegessen. Ich gehe also davon aus, dass du nicht weniger essen wirst.«
»Na, ob sie das schafft!«, bemerkte König Lorgios mit einem amüsierten Augenzwinkern Richtung Kaveh. »Der Junge futtert, als müsse er für eine ganzes Wolfsrudel mitverdrücken.«
Aryjen war zurückgekehrt und stieß Lorgios mit der Hand gegen die Schulter. »Ach, still mit dir. Du verschreckst sie noch!« Lächelnd reichte die Königin der Freien Elfen Nill eine dampfende Schale und fügte hinzu: »Iss nur, so viel du kannst. Keine falsche Scham. Du bist doch das erste Mal bei Elfen?
Dann lass dir gesagt sein, dass es eine Höflichkeit ist, wenn man Nachschlag möchte.«
»Deshalb gilt Kaveh auch als der höflichste aller Elfen«, ergänzte sein Bruder Kejael mit einem Grinsen.
Da es kein Besteck gab, hob Nill nach kurzem Zö-
gern die Schale an die Lippen. Eine hellbraune, dickflüssige Suppe schwappte darin, die einen pilzigen Duft verströmte. Auch die Elfen hoben ihre Schalen und tranken. Vorsichtig nahm Nill einen Schluck.
Ein herrlicher, cremiger Geschmack entfaltete sich in ihrem Mund. Jetzt erst wurde ihr bewusst, wie groß ihr Hunger war. Da niemand sie besonders zu beobachten schien, leerte Nill gierig die ganze Schale, ohne sie einmal von den Lippen zu setzen. Kaum hatte sie den letzten, köstlichen Schluck getan, nahm Aryjen ihr die Schale auch schon aus den Händen, um sie nachzufüllen.
»Kaveh hat uns von eurer Reise erzählt, während du geschlafen hast«, sagte Kejael.
Nills Blick wanderte zu Kaveh. »Wie lange habe ich denn geschlafen?«
Kejael lachte. »Fast zwei Tage. Auch wenn wir hin und wieder dachten, du wärst tot.«
Als Nill ein wenig bleicher wurde, puffte Kaveh seinem Bruder gegen den Arm. »Hör auf!«
»Stimmt, wir hielten dich nicht für tot«, erklärte Kejael. »Kaveh ist ja alle zwei Minuten in deine Kammer gerannt und hat nachgeguckt.«
»Kejael!« Kaveh kniff die Lippen schmal. »Ist gar nicht wahr!«
Kejaels Lächeln verblasste allmählich. »Das, was Kaveh von eurer Reise erzählt hat … Es muss furchtbar gewesen sein.«
Nill senkte den Blick. »Eigentlich … Solange Ka-
veh, Mareju und Arjas da waren, war es immer nur halb so schlimm.«
Noch während sie das sagte, färbte sich Kavehs Gesicht laubrot und ein seltsames Ziepen ging durch Nills Brust: Die Erinnerungen an ihre Reise mit Scapa und Fesco überkam sie, aber Nill verdrängte sie rasch. Dankend nahm sie die Schale entgegen, die Aryjen ihr reichte, und trank noch mehr von der warmen Suppe.
»Wo sind Mareju und Arjas?«, fragte sie dann.
»Zu Hause bei ihren Eltern«, erwiderte Aryjen sanft. Schlagartig wurde Nill bewusst, dass andere Leute Familien hatten. Sie blickte in die Runde der Elfen und erkannte, dass sie selbst inmitten einer Familie saß, doch ihre war es nicht. Die Erkenntnis, dass sie allein war, fiel schwer in ihr Inneres.
»Und Bruno?«, fragte Nill mit weicher Stimme.
Ein Grunzen erklang in einer Ecke des Raumes, als der Keiler seinen Namen hörte und
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