Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
verwundert den Kopf hob.
»Oh – ach so. Dann sind also doch alle wohlauf.«
Mit einem Geräusch, das bei einem Wildschwein wohl als müdes Seufzen gelten konnte, senkte Bruno den Kopf wieder und stützte ihn auf seine Vorderbeine.
»Noch eine Schale?«, fragte Aryjen, als Schweigen eintrat.
Nill nickte mit einem scheuen Lächeln.
Kaveh zog ein Knie an und senkte das Gesicht.
»Heute ist Erijels Bestattung. Wenn du fertig gegessen hast«, sagte er leise, »sollten wir gehen.«
»Oh … Natürlich.« Als die Königin ihr die aufgefüllte Schale ein drittes Mal reichte, hatte Nill plötzlich keinen Hunger mehr.
Aryjen gab Nill neue Kleider, bevor sie das Baumhaus verließen. Es war seltsam, den Mantel des Grauen Kriegers abzulegen, an den sie sich schon so gewöhnt hatte. Aryjen nahm ihn mit einem Kopfschütteln entgegen und murmelte: »Den brauche ich wohl nicht zu waschen. Den solltest du nie wieder brauchen.«
In einer kleinen Hinterkammer im Baum gab es einen Holzkübel, in dem sich Regenwasser sammelte. Nill durfte darin baden (genau gesagt drängte Aryjen sie hinein) und sie wusch sich den Schmutz der vergangenen Wochen von der Haut. Fast hatte sie vergessen, wie es sich anfühlte, sauber zu sein!
Dann war sie bereit, trug ein helles, leichtes Kleid mit weichen Lederschuhen und einem dünnen Mantel, der dem von Kaveh sehr ähnelte. Der Stoff der Kleider schillerte leicht im Sonnenlicht, konnte hell wie Silber sein oder perlgrau, und er war ihr vollkommen unbekannt. Gemeinsam mit Kavehs Familie verließ sie das Baumhaus und schritt durch das Dorf.
Elfen, die ihnen über den Weg kamen, legten die ge-falteten Hände an die Stirn und verneigten sich. Andere senkten teilnahmsvoll den Blick. Nill sah Kaveh sorgenvoll an. Seine Augen lagen in rötlichen Schatten, und sie war sich sehr sicher, dass er nicht nur wegen der Strapazen ihrer Reise so mitgenommen
aussah. Das fröhliche Leuchten, das stets in seinem Gesicht gewesen war, schien erloschen.
Sie und einige andere Elfen, die sich ihnen an-schlossen, verließen das Dorf und stiegen den sanften Hang hinauf. Als sie den Wald erreichten und Nill sich noch einmal umdrehte, konnte sie von den geschwungenen Bäumen und Hütten nichts mehr erkennen. Das Tal lag unter ihr, als habe nie jemand einen Fuß hineingesetzt.
Schweigend wanderten sie durch den Wald. Jeder außer Nill schien zu wissen, wohin sie gingen. Nach einer Weile lichteten sich die Bäume. Vor ihnen tauchte ein weiter See auf, die Oberfläche spiegel-glatt und schwarz wie polierter Stein. In der Ferne erkannte Nill Inseln. Die Fichten und Tannen, die sich etwas abseits über die Ufer des Sees beugten, und auch einzelne Flecken vom Himmel spiegelten sich im Wasser.
Elfen standen bereits am Ufer. Nill entdeckte Mareju und Arjas unter ihnen. Die Zwillinge winkten ihr traurig zu.
Auch im Wasser standen Elfen. In ihrer Mitte schwamm ein großes Holzfloß auf dem Wasser, das über und über mit getrockneten Blumenkränzen, buntem Laub und Rankengeflechten bedeckt war.
Eine Leiche gab es schließlich nicht.
Als König Lorgios und Königin Aryjen erschienen, senkten die Elfen gleichzeitig die Köpfe, knieten nieder und legten eine Hand auf die Erde. Auch die Königsfamilie kniete nieder, Nill tat es ihnen
rasch gleich und legte die Hand ins Gras. Stille trat ein. Auch der Wald ringsum schwieg, kein Vogel pfiff, kein Wind flüsterte mehr in den Bäumen. Träge zogen die Wolken über den See. Die Elfen im Wasser knieten ebenfalls nieder, sodass die Wellen ihnen gegen die Brust schwappten, nur zwei Frauen blieben stehen, die ältere in Schleier gehüllt. Sie schlug einen tiefen, trockenen Ton an, lang gezogen und schwer.
Die zweite, jüngere Frau stimmte mit zitternder Stimme ein. Ihr Trauerlied ließ auch Nill schwer ums Herz werden, und während sie kniete, die Hand auf die Erde gedrückt, rollten ihr Tränen über die Nasenspitze.
Die junge Sängerin zog einen Dolch aus ihrem Gürtel. Dann nahm sie ihre langen dunklen Haare in die Hand und schnitt sie ab. Die Menge am Ufer seufzte auf. Die ältere Sängerin hob eine Fackel und setzte das Floß in Brand. Die getrockneten Blumenkränze loderten auf. Der Rauch war beißend und duftend. Zitternd warf die junge Frau ihre abgeschnittenen Haare ins Feuer. Dann glitt das Floß auf die Mitte des Sees zu. Die Flammen wuchsen immer höher.
Allmählich erhoben sich die Elfen und starrten dem Feuer nach.
»Wieso hat sie das getan?«, flüsterte Nill.
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