Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
»Wieso hat sie sich die Haare abgeschnitten?«
Kavehs Blick hing abwesend am brennenden Floß.
»Es ist Brauch, dass man sich die Haare abschneidet, wenn man jemanden geliebt hat, auf diese Weise …
der gestorben ist«, flüsterte er.
Nill erinnerte sich an das geschwungene Zeichen, das Erijel am Unterarm getragen hatte. Und er war ihr näher denn je, als ihr klar wurde, dass die Frau mit den abgeschnittenen Haaren Ylenja war.
Die lange Prozession der Elfen wanderte schweigend zum Dorf zurück; nur einige waren am See zurückgeblieben: Ylenja und die Frau in den Schleiern, die
– wie Nill erfahren hatte – Erijels Mutter gewesen war. König Lorgios. Und Kaveh.
»Geh schon«, hatte Kaveh Nill zugemurmelt, als die Dämmerung heraufgezogen war. Mit umschlun-genen Beinen hatte er am Ufer gesessen und zum Floß hinübergeblickt. Es hatte auf dem schwarzen See geglüht wie ein verirrter Funken.
Schweigend schritt Nill neben Aryjen und Kejael zum Tal. Die Königin der Freien Elfen streckte die Hand aus, und unmerklich zeichneten sich die Umrisse des Dorfes aus dem Nichts ab. Feuer leuchteten unter ihnen und verströmten mattes Licht. In der Mitte des Dorfes wurden riesige Lagerfeuer aufgebaut, es roch bereits nach gebratenem Fleisch.
»Was bereiten sie hier vor?«, fragte Nill.
Aryjen erriet ihren Gedanken: Wie konnte ein Fest vorbereitet werden, wenn Erijel gerade bestattet worden war? Die Königin lächelte schwermütig. »Heute ist die Nacht der Dämonen. Schau in den Himmel.«
Sie legte Nill vorsichtig einen Arm um die Schultern und deutete hinauf. Der Abend war aufgezogen, der Himmel trug einen Umhang aus lila-blauem
Samt. Verdutzt erkannte Nill, dass Vollmond war –
und dennoch so viele Sterne über ihnen funkelten wie in einer Neumondnacht.
»Das ist unmöglich«, murmelte Nill und kniff die Augen zu.
»Zweimal im Jahr ist es möglich. Doch man kann den Vollmond und alle Sterne nur von unseren Elfendörfern aus sehen. Und sonst von keinem anderen Ort der Welt.«
»Wie?« Nill konnte den Blick nicht vom Himmel lösen. Es sah mehr als merkwürdig aus und dabei wunderschön.
»Nun«, antwortete Aryjen, »es ist die Nacht, in der Unmögliches möglich wird. Sieh, Vollmond und Sterne teilen sich den Himmel. Und aus diesem Grund wurde auch Erijel heute bestattet. Es bringt Glück, weißt du, ins Reich des Todes überzutreten, wenn Dämonennacht ist. Es heißt, dass der Tote die Unterwelt dann stets verlassen kann, um seine Liebsten zu besuchen. In dieser Nacht sollen die Tore aller Welten offen stehen. Der Tod trifft auf das Leben und sie tanzen miteinander, ohne dass der eine den anderen zu besiegen versucht. Und auch die Jungen und Mädchen in unserem Dorf tanzen bei den Feuern, bis der Morgen hereinbricht, denn die Dämonennacht ist die Nacht, in der schon so manches un-erreichbare Herz erobert wurde.«
Nill sah Aryjen an. Während sie gesprochen hatte, schien die Nacht ganz plötzlich über ihnen hereinge-brochen zu sein, das Gesicht der Königin hatte sich
verdunkelt, und nun fiel das Licht der großen Lagerfeuer auf ihr Lächeln.
»Komm«, sagte Aryjen und führte Nill zu den Feuern.
Rings darum hatten sich Elfen im kühlen, weichen Gras niedergelassen, sprachen miteinander und aßen.
Kinder ließen ihre Füße von den Ästen der Bäume baumeln und spielten auf den verschlungenen Stämmen und Hängebrücken Fangen. Von fernher hallten Flötenmusik und Trommeln durch das Dorf und bald stimmte eine Frauenstimme mit Gesang ein. Beim Lagerfeuer entdeckte Nill die Zwillinge wieder. Sie winkten Nill heran.
»Geh nur zu ihnen. Ich komme gleich nach.« Aryjen verschwand im Dunkelblau der Nacht und Nill lief zu Mareju und Arjas.
Sie umarmte die Zwillinge kurz, dann ließ sie sich neben ihnen ins Gras sinken.
»Wie findet ihr das?«, fragte sie schließlich.
Arjas wies mit einem Kopfnicken in Richtung Lagerfeuer. »Du meinst Erijel und jetzt die Dämonennacht?«
Nill nickte beklommen.
Arjas bohrte ein Stöckchen in die Erde. »Weißt du, das ist hier anders als bei den Menschen. Aber komisch fühlt es sich schon an …«
Mareju lächelte freudlos und strich sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Die haben alle keine Ahnung, was wirklich passiert ist! Ich musste schon so lange an Erijel denken, verflucht, und dann die Be-
stattung erst jetzt … Das ist, als würde man Jahre später noch mal eine Wunde untersuchen oder so.
Ach, ich weiß nicht, ich will nicht darüber
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