Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
Schließ-
lich atmete sie aus. »Du bist alles, was ich wirklich habe, weißt du? Die Welt ist so kalt, nur du nicht …
Komm bald rein. Ja? Du erkältest dich noch.« Vorsichtig glitt sie zurück.
Scapa lauschte ihren Schritten, als sie den Balkon verließ.
Die Zeit flog an ihnen vorüber. Die Nächte währten nur Augenblicke, die Tage vergingen wie Sekunden.
Die Gefährten ließen das Königreich von Dhrana hinter sich. Die fernen Gebirgsketten, die das Letzte waren, das noch an Korr erinnerte, verblassten am Horizont, und bald – bald tauchten sie ein in das Reich der Dunklen Wälder.
Es war, als habe Nill ihre Heimat seit Jahren nicht mehr gesehen. Und wie sonderbar fühlte sie sich, als sie eines Morgens unter den hohen, flüsternden Bäumen erwachte, das weiche Moos unter sich spür-te und die süßen Düfte des Waldes atmete! Sie glaubte, in ein längst vergangenes Leben zurückzukehren, einen fernen, friedlichen Traum erneut zu träumen – nur dass alles jetzt anders war. So heftig, wie die Liebe für die Wälder sie nun überfiel, erfüllte Nill auch die Furcht, alles für immer zu verlieren. Zu nah war die Erinnerung an die Marschen von Korr.
Sie ritten Tag und Nacht. Die Pferde waren am Ende und Bruno fiel schlafend um, wenn sie Halt machten. Nill, Kaveh und die Ritter fühlten sich nicht besser. Die Erschöpfung hatte sie an den Rand ihrer Kräfte getrieben. Der Hunger war zu einem ste-tigen Begleiter geworden, und wenn sie einander in die Gesichter blickten, erkannten sie, wie ausgemergelt und bleich sie geworden waren.
Nach mehreren Tagen rauschte goldenes und rotes
Laub durch die Wälder. Es war Herbst geworden.
Die Wälder waren erfüllt vom Knistern der schwe-benden Blätter, hoch oben in den Baumkronen flimmerte es, als tanzten tausend kleine Flammen in der Luft. Das Laub rieselte auf die Gefährten nieder, gezackte Blätter fielen auf ihre Köpfe herab und be-sprenkelten sie mit leuchtendem Gold. Der Duft des vergehenden Sommers kam von überall; er stieg aus der weichen trockenen Erde, strömte aus den Bäumen und dem bunten Laub.
»Spürt ihr es?«, sagte Kaveh in das Flüstern der tanzenden Blätter hinein. Ein Lächeln glitt über seine Züge. »Wir sind zu Hause.«
Mareju und Arjas strahlten, als ob sich eine überraschende Aussicht vor ihnen auftun würde.
»Schau«, sagte Kaveh, drehte sich zu Nill um, ergriff sie am Arm und zog sie neben sich. Dann streckte er die Hand aus. Nill sah nichts außer dem gewohnten Wald. Kaveh machte eine Handbewegung, wie ein zärtliches Winken sah sie aus. Plötzlich traten aus dem Flimmern der rauschenden Laubwirbel im Tal mächtige Bäume hervor. Aber was für Bäume!
Nill stockte der Atem, als sie das Dorf der Freien Elfen erblickte. Gigantische Buchen wuchsen aus dem Boden. Die meterdicken Stämme schraubten sich wie Spiralen in die Höhe und bildeten regelrechte Treppen, Hohlräume und Terrassen. Hängebrü-
cken aus Binsengeflecht, Wurzeln und Ranken verbanden einige der Baumkronen, die zusammenwuch-
sen wie runde Pilze – so dicht, dass sie gewiss keinen Regentropfen durchließen: Denn obgleich ihr Laub sich golden und scharlachrot gefärbt hatte, ließ es sich vom Wind nicht forttragen.
»Wie – das ist – einfach – erschienen …«, stammelte Nill.
Kaveh lächelte. Dann drückten die Gefährten ihre Fersen an die Flanken der Pferde und ritten das Tal hinab.
Allmählich bemerkte man sie. Kinder hielten im Spielen inne und liefen aufgeregt zu den Baumhäusern zurück. Elfen strömten von überall zusammen.
Aus der Menge schritt eine Frau auf sie zu. Ihr schwarzes Haar war zu einem kunstvollen Kranz gesteckt. Mit den zarten Falten, die ihre Augen und Lippen umzeichneten, erschien sie Nill so schön wie ein gemaltes Bild.
Die Frau hielt einen halbfertig geflochtenen Korb in den Armen; doch als die Gefährten auf sie zurit-ten, fiel er ihr zu Boden.
Kaveh stieg vom Pferd. Mit stockenden Schritten kam er auf die Frau zu. »Marúen«, hauchte er.
Aryjen starrte ihren Sohn wie ein Trugbild an.
»Mutter?«, wiederholte sie. Ihre Augen schwammen in Tränen. »Ist das alles, was du zu sagen hast?«
Kaveh senkte den Blick. Aryjen gab ihm eine Ohrfeige; aber sie zitterte viel zu sehr, um ihn ernsthaft zu schlagen, und die Ohrfeige ging in ein Streicheln über.
Kaum einen Augenblick später schloss sie ihn so fest in die Arme, dass ihre Tunika sie beide umhüllte.
»Du bist schrecklich!«, schluchzte Aryjen. »Was ist das für ein
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