Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
Rot.
Vor dem Herdfeuer saß der König der Freien Elfen mit gekreuzten Beinen. Er blickte auf, als er Nill, Kaveh und Kejael eintreten sah.
»Da seid ihr endlich. Kommt, setzt euch zu mir.«
Die drei nahmen gegenüber dem König am Herdfeuer Platz. Lorgios schnipste nachdenklich etwas in die Flammen, das aussah wie getrocknete blaue Blü-
ten. Es knisterte und Funken stoben auf. Aus den Feuern stieg ein zarter Duft, süßlich und einschlä-
fernd. Die Augen des Königs richteten sich auf Nill.
»Kaveh hat mir, als du schliefst, von eurer Reise und euren Erlebnissen berichtet. Und nun glaube ich, dass der Zeitpunkt gekommen ist, wo du, Nill, alles erfahren sollst, was dir zuvor vielleicht rätselhaft und geheimnisvoll erschienen ist. Zu lange warst du bereits Mittelpunkt der Geschehnisse, von denen du nicht einmal die Hälfte verstehen konntest – und vielleicht auch nicht verstehen durftest. Nun sollst du klar sehen. Wünschst du dir das genauso, Nill?«
Nill nickte schnell.
»Nun.« König Lorgios lächelte ein wenig und schnippte ein weiteres Blütenblatt in die Flammen.
Ein blauschimmernder Funken schwebte zu ihm auf.
»Ich glaube, ich sollte dort beginnen, wo alles seinen Ursprung fand, was uns in dieser Geschichte bewegt hat. Dieser Ursprung liegt in jenen dunklen Tagen, da die Krone der Elfen in der Mitte entzweibrach.«
Ein Schaudern lag jetzt in der Stimme des Königs und auch Nill bekam plötzlich eine Gänsehaut. Es schien, als sei die Temperatur im Raum um ein paar Grad gefallen. Die Flammen flackerten unruhiger und in den Ecken des Zimmers jagten sich die Schatten.
»Von alters her wurde der Nachfolger des Königs, der über das Volk der Elfen gebot und seine Zukunft sicherte, durch mächtige Orakel und Zauber bestimmt. Der Träger der Krone musste eine Stärke haben, die tief verborgen im Herzen liegt und die man durch noch so viele Untersuchungen nicht entdecken kann – es geht nur durch Prophezeiungen. Es ist eine Stärke, die weder mit Muskelkraft noch mit Verstand oder Mut zu tun hat. Es ist die Stärke, Macht zu tragen. Macht, so schwer wie die Steinkrone einst selbst, Macht, die jeden anderen blenden und in den Wahnsinn treiben würde. Darum ist es so schlimm, dass ein Mensch die Krone trägt: Die meisten Menschen sind nicht geschaffen dafür, eine solche Macht zu tragen. Sie wollen ja ihre Macht stets beweisen – und wenn diese Macht in hunderttausend Soldaten liegt, nun, dann ist ein Krieg nicht fern.
Über Generationen hinweg war die Krone friedlich überreicht worden. Oft ging sie an ein Kind des ursprünglichen Kronenträgers, manchmal aber auch an eine ganz andere Elfenfamilie.
Einst gab es einen König, der konnte trotz aller Orakel, Zauber und Prophezeiungen nicht entscheiden, wer seiner beiden Zwillingskinder sein Erbe antreten sollte: seine Tochter Lezire oder sein Sohn
Navael. Die einen Seher sagten, Navael würde König werden, die anderen Propheten waren überzeugt, Lezire als künftige Königin zu sehen, und so war die Verzweiflung groß. Als der König starb, war Lezire als Einzige an seinem Sterbebett. Als sie den Toten verließ, verkündete sie, dass sein letzter Wille gewesen sei, dass sie die Kronenträgerin werden solle.
Navael wollte das nicht hinnehmen. Zwischen den Geschwistern entbrannte ein schrecklicher Streit, der ihr Blutband für immer vergiftete. Die Elfen teilten sich; die einen folgten Lezire, die anderen Navael.
Krieg brach aus. Tausende unseres Volkes starben, getötet durch die Hände ihrer eigenen Brüder und Schwestern. Auch Lezire und Navael kämpften Klinge gegen Klinge und verletzten sich gegenseitig.
Als ihr Blut auf die Krone fiel, als zum ersten Mal seit Anbeginn unserer Zeit Blut vergossen wurde für die Macht der Krone – noch dazu das Blut von Geschwistern –, zerbrach der Stein in zwei Hälften: Elyor, das Licht, und Elrysjar. Elrysjar, die Kraft.
Obgleich der Krieg mit dem Zerbrechen der Krone endete, konnte fortan keine Einigkeit mehr herrschen. Die Gefolgsleute Navaels beschlossen, den Wald zu verlassen und zogen in die Marschen, wo Navael seine Reue als Schuldiger für das Zerbrechen der Krone abbüßen wollte. Was getan war, konnte nie wieder gutgemacht werden: Das Volk der Elfen war geteilt, für immer, und einen König, der alle unter sich einte, würde es nie wieder geben. Lezire nannte ihren Stamm fortan den Stamm der Freien
Elfen, da sie sich frei von Schuld empfand. Bis zum Tode behauptete Lezire, von ihrem Vater als
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