Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
Erbin bestimmt worden zu sein. Jedoch heißt es den Sagen und Legenden nach, dass Lezire, unsere erste Königin, im Sterbebett zugab, sich des Blutvergießens schuldig gemacht zu haben.
Dieser Hass, der zwei Geschwister in Feinde verwandelte, Elfen gegen Elfen trieb und die Einigkeit unseres Volkes für immer zerstreute, glüht noch heute in beiden Kronenhälften. Nähert sich die eine Hälfte der anderen, glühen die Vergangenheit und der einstige Hass von neuem auf und erinnern uns an die Schandtat unserer Vorfahren. Das«, schloss Lorgios ab, »ist der Grund, wieso das magische Messer in der Nähe der Kronenträgerin von Korr glühte wie ein heißes Eisen.«
Nills Hand hatte sich unmerklich um den Steindorn in ihrer Rocktasche geschlossen. Er war glatt und kühl, aber Nills Finger schwitzten.
»Hast du noch Fragen, die dir auf dem Herzen brennen?«, fragte der König sanft.
»Ja«, erwiderte sie nach einem Augenblick. »Ich
… weiß noch immer nicht, wieso ausgerechnet ich das Messer gefunden habe.«
»Das weiß auch ich nicht!« Lorgios lachte, seine Augen leuchteten fröhlich auf und plötzlich hatte er mehr Ähnlichkeit mit Kaveh als je zuvor. »Es gibt ein Sprichwort in unserer Sprache: Myrrdhát soyjen Myrrdhát kor el nej myrrdhe. Kaveh, willst du es übersetzen?«
»Das Schicksal heißt Schicksal, weil es nicht zu er-klären ist. Denn Schicksal heißt auf Elfisch«, fügte Kaveh schnell hinzu, »wörtlich übersetzt erklärungslos.«
»Das ist verwirrend«, murmelte Nill und die Elfen lachten.
Dann sagte der König: »Kejael, bitte lass uns nun alleine. Ich rufe dich später.«
Kejael blieb einen Moment sitzen, dann erhob er sich wortlos und ging. Stille breitete sich über ihnen aus. Von draußen drang der Lärm des Festes lauter herein als zuvor. Die Trommeln dröhnten in der Nacht. Ein Lied schwebte in der Luft:
»Feuer der Dämonennacht,
tanz mit dem Lied, das hier erwacht!
Leuchte nun für hundert Jahre,
die eine Nacht nur in dir wahre.
Sollt unser Volk einmal vergehen, wird tief im Schlaf Erinnerung bestehen, die als Legende einst erwacht;
drum tanz für hundert Jahre,
Feuer der Dämonennacht!«
»Ich habe mit jemandem über dich gesprochen«, sagte Lorgios zu Nill. In seinen Augen flackerte das Herdfeuer. »Mit jemandem, den du kennst. Wir haben wie du überlegt, wieso das Schicksal dich bestimmt hat, das magische Messer in dem hohlen Baum zu finden. Natürlich gibt es dafür keine Erklä-
rung. Und doch gibt es womöglich einen Grund,
weshalb du – und nur du – das Messer zu tragen bestimmt warst.« Lorgios schien sich leicht vorzubeu-gen, doch er saß noch immer so gerade wie zuvor; lediglich sein Gesicht schien näher. Schatten und Licht tanzten darüber. Seine Stimme war leise und kam langsam. »Du, Nill, kannst die Bäume flüstern hören …«
»Was bedeutet das?«, fragte Nill.
»Es bedeutet, dass du die Geister hörst, die im Wind raunen und durch das Knistern der Blätter sprechen. Du ahnst Dinge, Nill. Geister umgeben uns, in jedem Augenblick unseres Lebens. Manchmal sind sie gewillt, unsere Wünsche zu hören … Und wenn wir sie im rechten Moment klar aussprechen, dann erfüllen sie sie uns. Du, Nill, spürst die Augenblicke, in denen zarte, geheimnisvolle Mächte dich umgeben und deinem Herzen lauschen. Und du kannst mit ihnen sprechen. Das bedeutet es, Bäume flüstern zu hören.«
Nills Augen glänzten, doch ihr Blick war fern.
»Du bist hier«, fuhr der König ein wenig lauter und fester fort, »da das Schicksal dich zu uns geführt hat. Das Volk der Elfen erlebt eine Zeit der Veränderung und du sollst darin eine entscheidende Rolle spielen. Aus diesem Grund will ich dir einen neuen Namen anbieten, der vergangene Tage Vergangenheit sein lässt und dir eine neue Zukunft schenkt.
Willst du diesen Namen annehmen?«
Nill schluckte. »Ja«, flüsterte sie heiser. »Ich meine … sehr gerne.«
Lorgios schien zu lächeln; doch Nill konnte sich im Spiel der Schatten und Lichter auf seinem Gesicht irren.
»Dein neuer Name eröffnet sich heute Nacht vor dir, um den Beginn einer neuen Zeit anzugeben. Dein Name«, sagte Lorgios feierlich, »bedeutet die die Bäume flüstern hört. Er bedeutet hellhörig. Dein Name lautet Nijura.«
Nijura
Einen Moment herrschte Stille. Nijura, hallte es in ihrem Kopf wider. Nijura … Sollte sie so heißen?
War das ihr Name? Sie, Nill, sollte Nijura sein? Sie blickte zum König auf.
»So ist also der Lauf der Dinge«, murmelte
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