Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
er abwesend. Über seinen Augen hing plötzlich ein Schleier von Müdigkeit und Alter. »Das magische Messer wurde gefunden und zurückgebracht. Am Ende ist nichts erreicht und noch nichts verloren. Das Schicksal treibt uns im Kreis, bis es sich entscheidet
– für uns oder gegen uns.«
Nill versuchte die Macht über ihre Stimme zu-rückzugewinnen, nachdem sie eine Weile lang sprachlos gewesen war. »Wieso haben die Freien Elfen nicht schon vorher vom magischen Messer Gebrauch gemacht? Wieso habt ihr es in einem Baum versteckt? Ihr hättet den König leicht besiegen können, wenn ihr eine Truppe der besten Krieger losgeschickt hättet.«
»Wenn es so einfach wäre.« Ein Lächeln glitt über Lorgios’ Gesicht, doch es war freudlos. »Eine Entscheidung ist zweischneidig wie die Klinge eines scharfen Messers. Du musst wissen, Nijura: Als die Krone zerbrach, fiel ein Fluch darüber. Sollte erneut ein König auf unrechtmäßige Weise in Besitz einer Kronenhälfte kommen, dann würde sich die andere Hälfte in ein Messer verwandeln, das den unbesiegbaren König töten kann. Und so ist es gekommen.
Doch wir haben gezögert, das Messer für diesen Zweck zu gebrauchen. Denn sobald das Messer den Träger der Krone tötet und die beiden Steinhälften erneut Blutvergießen heraufbeschworen haben, ist der Zauber der Krone verloren. Und somit der größte Zauber, den wir Elfen noch besitzen. Schwinden die Mächte der Kronenhälften, ist unser Volk nicht mehr das, was es einmal war, und die Magie, die unser Volk heute noch erfüllt, wird versiegen.
Wenn die Kronen nicht mehr da sind, werden die Elfen sich nie wieder unter zwei Königen einen, so wie sie sich vor Jahrhunderten nicht mehr unter einem König zusammenschließen konnten. Es würden einzelne Fürstentümer und Königreiche entstehen.
Wir Elfen würden wie die Menschen werden; wir würden einander bekriegen und schließlich von den Menschen verdrängt werden, gegen die wir nur als geeintes Volk bestehen können.
So siehst du also, dass ich immer den Untergang meines Volkes riskiert hätte – egal, ob ich beschlossen hätte, den König mit dem Messer töten zu lassen
oder das Messer in einem Baum zu verstecken. Die eine Entscheidung hätte verhindert, dass ein Mensch sich unsere Krone zunutze macht und uns zu seinen Sklaven degradiert, ja. Aber dafür würden wir unseren Einfluss auf die Welt langsam verlieren und über die Jahrhunderte hinweg verbluten wie ein erlegtes Tier. Mit der anderen Entscheidung würden wir abwarten. Abwarten, denn auch ein Menschenkönig stirbt irgendwann. Und wer weiß, vielleicht würden die Natur und das Schicksal allein dafür sorgen, dass die Krone Elrysjar wieder in die Hände eines würdigen Moorelfen gelangt. Ich habe die zweite Entscheidung gewählt, das Abwarten. Eine derartige Veränderung für mein Volk, wie sie zuletzt die beiden Geschwister Lezire und Navael heraufbeschworen haben, will ich nicht verantworten.«
Nill kniff die Augen zusammen. »Du fürchtest die Königin von Korr nicht, oder? Ich habe Angst. Angst um die Dunklen Wälder. Angst um mich. Um alle.
Fürchtest du denn nicht, was sie alles bewirken könnte, bevor sie stirbt? Ein Leben ist lang, da kann viel Schreckliches geschehen.«
Der König hob die Hand und öffnete sie über dem Feuer. Kleine getrocknete Blumen rieselten in die Flammen. Funken stoben auf, schwirrten schimmernd blau um sie herum und blieben so lange in der Luft, dass man sie mit Glühwürmchen hätte ver-wechseln können.
»Sieh ins Feuer, Nijura«, sagte der König sanft.
»Wir Sterblichen sind wie die Funken, die aus den
Flammen steigen. Unsere Herzen leuchten hell in der Dunkelheit der Welt, doch binnen eines Wimpernschlags …« Lorgios blickte auf und griff langsam nach einem Funken, der in seiner Hand verschwand.
»Binnen eines Wimpernschlags sind wir schon verschwunden. Das Feuer, aus dem wir stammen, ist unser Volk, und es lodert lange und hell, es wärmt uns. Doch selbst die Flammen werden einst schwä-
cher … kleiner … sie verlöschen. Denn wie alles einen Beginn hat, hat auch alles ein Ende. Mit Sicherheit wird der Untergang der Elfen eintreten, ebenso wie der Untergang der Dunklen Wälder. Die Menschen werden untergehen, die Welt, wie wir sie kennen, wird untergehen. Das ist so sicher, wie dieses Herdfeuer erlöschen wird. Doch wir können hoffen, dass es sich damit noch ein wenig Zeit lässt. Und dass bis dahin noch viele strahlende Funken Licht in die Finsternis
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