Nybbas Nächte
war sie. Dieses Argument würde bröckeln, sobald Elias eine Spur gefunden hatte – und sie fürchtete sich davor. Funklöcher wurden zu Erholungspausen in der Anspannung.
Joanas Verbindung zu Nicholas dagegen schien von ständigen Störungen belastet, als würde ein Rauschen aus Ambivalenz jede Kommunikation behindern. Sie verstand sich nicht mehr, und ihn noch weniger.
„Ich spüre deine Furcht“, hatte er einmal im Wagen gesagt, ohne sie anzusehen, „aber ich verstehe sie nicht. Ich versuche es hinzunehmen, dass du für falsch erachtest, was für mich das einzig Richtige war, doch das ist nicht einfach.“
„Für mich auch nicht, Nicholas.“
„Ich weiß. Lass mich wissen, wenn du meine Nähe wieder erträgst.“
Zum ersten Mal, seitdem sie sich kannten, blieb er auf Distanz. Nicht im körperlichen Sinne, aber selbst wenn er sie in den Arm nahm, schien es, als hätte er eine hauchdünne Trennwand zwischen sich und ihr errichtet. Als berührte er nur noch ihre Haut, nicht aber sie selbst. Wenn ihr Albtraum sie nachts wach rüttelte, streichelte er wie immer ihr Haar, bis sie sich wieder entspannte, doch selbst diese Geste bekam nun etwas Mechanisches. Er ließ Joana schweigen, redete wenig, und sie wusste nicht, ob sie ihm danken oder ihn verfluchen sollte. In ihrem Inneren wünschte sie, er würde sich ihr erklären. Sein wildes, hasserfülltes Verhalten in Worte fassen, die sie begreifen konnte. Sie wünschte, er würde eine Entschuldigung aussprechen, oder ihr zumindest sagen, dass er sich in Zukunft bemühen wollte, sein Temperament zu kontrollieren. Er sollte ihr sagen, dass jeder Mann, ob Mensch oder Dämon, in dieser Situation dasselbe getan hätte.
Doch er tat nichts davon und letztlich war es das, wofür sie ihm dankbar war, denn es ließ sie verstehen, was wirklich in ihm vorging. In seinen Augen hatte er richtig gehandelt. Es gab nichts zu rechtfertigen und noch weniger zu entschuldigen. Er war er selbst gewesen. Er hatte getan, wonach es ihn verlangt hatte. Für jemanden wie ihn gab es vermutlich nichts, was sich richtiger anfühlte, als dem Verlangen nachzugehen. Jahrelang hatte er den Befehlen einer Nekromantin, der Dämonenbeschwörerin Lorenna, gehorchen müssen, die sogar über seine Empfindungen regiert hatte. Gefühle ausleben zu können, wie sie ihn überkamen, bedeutete Freiheit für Nicholas. Joana wusste, wie wichtig ihm dies war.
Doch so leicht es fiel, sein Verhalten zu erklären, so schwer war es, zu vergessen, was er getan hatte. Wie er es getan hatte. Das Schlimmste war das Gefühl, dass sie es langsam selbst nicht mehr als Grausamkeit wahrnahm. Immerzu suchte sie Erklärungen und Rechtfertigungen, fand sie und ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie vielleicht ähnlich reagieren würde, wäre sie dazu in der Lage.
Knappe zwei Wochen nach dem Überfall übernachteten sie in einem kleinen Hotel in Marseille. Nicholas hatte diese Stadt unbedingt besuchen wollen, aber keine Gründe genannt. Er verschwand am späten Abend, wie er es oft tat, um seinen speziellen Bedürfnissen nachzugehen. Auf Opfersuche ging er immer allein. Eine von Joanas Bedingungen lautete, nicht sehen zu wollen, welchen Menschen er Gefühle stahl. Trotzdem blieb an diesem Abend eine schmerzende Leere zurück, als er das Hotelzimmer verließ. Der gemütlich eingerichtete, in warmem Gelb und Terrakotta gehaltene Raum verhöhnte Joana. Sie konnte sich nicht erinnern, sich je einsamer gefühlt zu haben. Dabei war sie immer gern allein gewesen, hatte sich in Gesellschaft oft gelangweilt. Nun war alles anders. Vielleicht war sie mit einem Loch in ihrem Inneren geboren worden. Ein Loch, das sie nie als solches wahrgenommen hatte, da sie von klein auf daran gewöhnt war. Sascha hatte dieses Loch gefüllt, doch er war gewaltsam aus ihrem Leben gerissen worden. Und dann war Nicholas gekommen.
Möglich, dass sie nun auch ihn verlor, oder längst verloren hatte. Oder – und die Vorstellung klang noch schlimmer – es war nicht er, der diese Leere in ihr füllte, sondern nur eine Illusion von dem, was sie in ihm hatte sehen wollen. Etwas, das es nicht gab.
Als sie Deutschland mit ihm verlassen hatte, war ihr keine andere Wahl geblieben, selbst wenn sie nach einer gesucht hätte. Die Clerica jagten sie beide, ebenso die Dämonen, die den Tod des Paymon rächen wollten, den Nicholas getötet hatte. Ohne Nicholas hätte Joana keine Chance gehabt. Man hätte sie gefangen genommen und im besten Fall eingesperrt. Sie
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