Nybbas Nächte
Unterlippe. Er litt unter ihrem Verhalten, aber dachte er, sie würde mit Absicht so fühlen? „Hättest du dich anders verhalten, wenn ich nicht in Gefahr gewesen wäre?“ Ihre Stimme zitterte, weil sie die Antwort kannte. „Angenommen ich wäre nicht dabei gewesen. Hättest du den Inanen dann nicht gefoltert?“
Er sprang so schnell auf, dass Joana erschrak. Eiskalt sagte er: „Du hast keine Ahnung, was Folter ist. Wenn du nicht da gewesen wärst, Joana, wenn ich meinen Verstand beisammengehabt hätte, dann hätte ich ihn wirklich gefoltert.“
Sie drehte sich langsam um, beobachtete, wie er im engen Zimmer auf und ab lief. Drei lange Schritte vom Bett bis zur Tür, drei zurück. Eine Hand in der Hosentasche, eine am Kinn. Die typische Haltung, wenn es ihn nach einer Zigarette verlangte.
„Siehst du. Das meine ich.“
Nicholas blieb unvermittelt stehen. Ein Grinsen kräuselte seine Lippen, es wirkte eher bitter als amüsiert. „Ich hatte mir das anders vorgestellt“, murmelte er, als spräche er zu sich selbst.
Er griff nach einem flachen Paket, das auf der Kommode lag. Joana hatte es zuvor nicht gesehen, er musste es mitgebracht haben. Eine Weile betrachtete er es, dann warf er es neben ihr aufs Bett.
„Was ist das?“ Im schummrigen Licht erkannte sie nur, dass es in grobes Packpapier gewickelt war.
„Ein Geschenk.“
„Für mich?“
Er verzog das Gesicht zu einem mokanten Für-wen-sonst?. Joana berührte das Paket zaghaft, als würde es ihr jeden Moment um die Ohren fliegen. Das war gar nicht so unwahrscheinlich. Womöglich machte ihre Kampfausbildung Fortschritte und in den nächsten Unterrichtsstunden ging es um TNT und Plastiksprengstoff. Sie wollte trotzdem riskieren, das Papier vorsichtig zu öffnen, als Nicholas’ Handy klingelte.
Er stieß den Atem aus, nahm den Anruf aber an. „Elias, was ist?“
Er lauschte. Zeit verging, viel zu viel Zeit, in der er kein Wort sagte. Seine Gesichtszüge versteinerten. Dann folgte ausgerechnet das, was Joana am wenigsten hören wollte.
„Das ist große Scheiße. Ich komme.“
Er schwieg, offenbar redete Elias nun wieder, und was Nicholas darauf erwiderte, verstand Joana nur bruchstückhaft. Er schimpfte Elias einen bescheuerten Idioten, fragte mehrmals, ob er sicher sei, drohte, ihn zu rupfen wie ein Huhn, und wurde dann still. In ihren Ohren rauschte es, nur ihr Herzschlag unterbrach das störende Geräusch.
„Was ist passiert?“, hauchte sie, als Nicholas auflegte, ans Fenster trat und hinaussah. Auf der Straße fuhr ein Auto vorbei und tauchte seine ausdruckslose Miene erst in weißes Leuchten und dann in das rötliche der Rücklichter.
„Erinnerst du dich an die Droge, von der ich dir erzählte, Jo?“
Wie hätte sie das vergessen können? Bevor sie sich kennengelernt hatten, ließ Nicholas im Auftrag eines höherrangigen Dämons in Hamburg ein Medikament entwickeln, mit dessen Hilfe Menschen manipuliert werden sollten. Ihre Feinde hatten das Mittel nutzen wollen, um auch Joana aus dem Weg zu räumen.
„Tja, das Zeug ist aufgetaucht. Und offenbar wirkt es inzwischen.“ Er schüttelte den Kopf, als könnte er es nicht glauben. „Ich hab mir gleich gedacht, dass da etwas faul sein musste. Kein Dämon befehligt so viele Inanen zugleich.“
„Die Männer, die bei uns eingebrochen sind, standen unter Drogen?“ Joana richtete sich im Bett auf. Sie wusste nicht, ob sie dies noch schauriger finden sollte als die Vorstellung, man hätte diesen Männern die Gefühle geraubt und sie willenlos gemacht.
„Sie waren Inanen. Emotionslos. Aber man hat durch das Mittel nachgeholfen, um sie zu kontrollieren. Elias hat weitere gefunden.“
„Wie kann das sein? Die Clerica haben die Firma sicherlich durchsucht. Wie kann diese Droge trotzdem in die Hände von anderen Dämonen geraten sein?“
„Lillian“, antwortete Nicholas in einem fragenden Tonfall, als wunderte es ihn, dass sie selbst nicht auf die Idee kam. „Die Nabeshima. Vor dem Kampf sicherte sie alle Daten. Für jemanden, der hin und wieder aus seiner Haut fährt, gibt es dazu nur eine Lösung: Das Ganze wird per E-Mail an eine geheime Adresse verschickt und alle Beweise werden gelöscht.“
Joana fror, sie zog die Decke bis zum Hals hoch. „Was bedeutet das?“
„Dass ich nach England fliegen werde. Allein.“
6
„N
ein!“
Joana sprang so schnell auf, dass sie fast gestolpert und aus dem Bett gefallen wäre.
„Du kannst jetzt nicht gehen, bitte nicht, ich
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