Nybbas Nächte
hinab. Graues, winterwelkes Moos spritzte unter den Reifen weg und flog in Büscheln durch die Luft. Ob er das ungefragt ausgeborgte Quad an einem Stück, in Einzelteilen oder überhaupt nicht zurückbringen würde, war ihm gleichgültig.
Er wusste nicht, wie lange oder in welche Richtung er gefahren war, als er anhalten musste, da sein Körper kurz vor der Kapitulation stand. Das T-Shirt war nass geschwitzt, der Schweiß vom Fahrtwind zu kleinen Kristallen gefroren, doch die Kälte und das Zittern seines Körpers ließen langsam nach. Der Hass auf Choskeih legte dafür im Takt seines Pulsschlags zu. Der Nybbas zerrte mit Säbelklauen an seinen Eingeweiden. Es fehlte nicht viel, und er wäre gewaltsam aus ihm herausgebrochen, hätte seine Rippen samt Fleisch in alle Richtungen auseinandergesprengt wie Gärung die pralle Haut einer faulenden Frucht.
Doch Nicholas ließ ihn nicht heraus. Er würde Choskeih finden und Stück für Stück an seine Füchse verfüttern. Dazu brauchte er den menschlichen Körper, denn diesen konnte der andere Dämon nicht kontrollieren. Dass er in seiner buchstäblichen Raserei die Spur der Jagdgesellschaft längst verloren hatte, gab der glühenden Wut weiteren Zunder.
Schließlich gesellte sich etwas Weiteres in das rotierende Durcheinander seines Inneren. Etwas, das er nicht erklären konnte. Dass er Choskeih töten wollte, entsprang nicht der Eifersucht. Er kannte Joana besser als sich selbst. Sie war ihm wichtiger als seine eigene, verdammte Existenz. Hätte sie mit einem Wort erwähnt, dass sie das Risiko an seiner Seite gegen die Sicherheit in Choskeihs Bett tauschen wollte, so hätte ihm das das Herz herausgerissen, aber er hätte es hingenommen. Seine Mordlust entsprang nicht dem Wunsch, sie zu behalten.
Er wollte zerstören.
Ihr wehtun, so wie sie ihm wehgetan hatte, als sie sich in diesem fremden Bett suhlte und auf einen anderen wartete. Er wollte ihr diesen Schmerz mit Zinsen zurückzahlen. Ihr, die er eben noch vor jedem Leid hatte schützen wollen. Wie seltsam, dass es ausgerechnet sie war, die seine Rachsucht wachrief; etwas, das er nie zuvor verspürt hatte.
Und wenn sie nun doch nicht freiwillig in diesem Bett gelegen hatte? Nein, unmöglich. Als Clerica war sie nicht manipulierbar. Er sollte aufhören zu hoffen, und damit das Messer immer weiter umzudrehen, sonst endete er noch als ihre Aufziehfigur.
Eine Bewegung weit über ihm ließ ihn den Kopf in den Nacken legen. Der eben noch endlose schwarze Himmel war von grünlich schimmernden Schatten durchzogen.
‚Ob wir Polarlichter sehen werden?‘, hatte sie ihn bei der Ankunft gefragt. Er sollte den Blick abwenden und weiter nach Choskeih suchen, doch konnte es nicht. Auf das Quad gelehnt starrte er paralysiert in den Himmel und beobachtete die Schlieren aus Blau und Grün, die sich dort in die Schwärze woben. Manche waren schwach und verblassten sogleich wieder. Wie farbig in die Kälte gehauchter Atem. Andere nahmen Konturen an, durchmaßen den Himmel, zogen wellenartige Linien oder Kreise in solcher Intensität, dass sie das ganze dunkle Land mit ihrem Licht übergossen. Sie erinnerten an Dämonen im Schattenleib, und nur die Tatsache, dass er sie hätte spüren müssen, hielt ihn ab, seinen Körper für immer fallen zu lassen, um sich ihnen anzuschließen.
Seine Art nannte diese Wetterphänomen Irrlichter, nicht wenige waren ihnen bereits in die Weiten des Himmels gefolgt. Es hieß, einige Dämonen hätten beim brennenden Wunsch, ihnen näher zu kommen die Sphäre verlassen, in der sie existieren konnten. Wie hoch man wohl fliegen musste, bis der Schatten starb?
Nicholas wusste nicht, wie lange er verharrte und frierend den Polarlichtern zusah. Sie wirkten zugleich faszinierend wie beruhigend auf ihn; zu beruhigend, wenn er bedachte, dass er bei wenigen Graden unter null nur im T-Shirt in der Nacht stand. Der Nybbas wollte nach wie vor ausbrechen, nun nicht mehr aus Wut, sondern aus Sehnsucht nach den lockenden Lichtern. Nicholas konnte nicht mehr unterscheiden, welches Zittern der Dämon verursachte, welches die Kälte und welches seine Angst, dem ein oder dem anderen zuverfallen.
Er schloss die Augen, kostete die Luft. Nur nicht länger in den Himmel sehen, solange er den Himmel noch nicht aus der Nähe sehen wollte. Er konzentrierte sich auf den Wind, denn der sprach immer die Wahrheit. Heute schmeckte er nach metallischer Kälte, nach vor langer Zeit verglühtem Stein und etwas Schwefel. Höllisch. Da
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