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O du Mörderische

Titel: O du Mörderische Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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wieder ein, und ich erzählte James davon.
    »Er wird hocherfreut sein«, sagte er.
    Ich ließ den Hörer neben dem Telefon liegen und ging nach Claire schauen. Sie hatte sich nicht gerührt. Ich lief auf Zehenspitzen
     durch die Küche, machte mir Müsli und Toast und nahm alles mit ins Schlafzimmer.
    Mir war der Gedanke gekommen, daß Claire vielleicht aus Verzweiflung über Mercys Tod zusammengebrochen war. Ihre Wangen hatten
     geglüht, als sie am Vorabend über ihre Arbeit in der Galerie erzählt hatte, und als Mercy ihre boshaften Bemerkungen über
     die Folk-Art-Künstler gemacht hatte, war ich es gewesen, die gekontert hatte, nicht Claire. Sie war voller Bewunderung für
     Mercy und ihre Arbeit gewesen. Aber wie war Claire auf meiner Hintertreppe gelandet? Wo hatte sie ihr Auto? Wo waren ihre
     Schuhe? Und was sollte dieses »Ich habe sonst niemanden, zu dem ich gehen könnte«? Sie mußte irgendwo eine Wohnung haben und
     vermutlich einen Mann, da sie nicht mehr Claire Needham hieß, sondern Claire Moon.
    Wenn ich mich aufrege, vergeht mir der Appetit. Ich versuchte zu essen, aber die Haferflocken schmeckten wie Pappe. Ich stellte
     das Schüsselchen ab, ging zum Bücherregal und zog das Schul-Jahrbuch heraus, in dem Claire zu finden war. Es war verblüffend,
     sie als blassen Teenager mit dunkelblondem, in der Mitte gescheiteltem Haar zu sehen, das schlaff zu beiden Seiten des Gesichts
     herunterhing. Kein Wunder, daß ich sie am Abend zuvor nicht erkannt hatte. Nur ihre Augen schienen dieselben: dunkel, leicht
     orientalisch schräg. Ein hübsches Mädchen, aber eines, das in der Masse untergegangen wäre. |48| Neben ihrem Foto, wo Auszeichnungen und Freizeitaktivitäten aufgelistet waren, stand »Kunst-AG«. Das war alles. Obwohl sie
     in meinem Leistungskurs Englisch gewesen war, hatte sie weder am Debattierclub teilgenommen noch beim Literaturmagazin oder
     in der Theatergruppe mitgewirkt, Dinge, die gewöhnlich Hand in Hand damit einhergehen.
    Sie hatte bei Pflegeeltern gelebt. Das wußte ich noch. Aber war sie aufs College gegangen? Ich hatte keine Ahnung, und ich
     hätte mich dafür ohrfeigen können. So viele Schüler. So viele Leben. Ich klappte das Buch zu und fragte mich zum vielleicht
     millionsten Mal, ob diese Schüler irgend etwas in meinem Unterricht gelernt hatten, was ihnen später im Leben von Nutzen war.
     Hatte die Lyrik von Robert Frost es ihnen leichter gemacht, mit falschen Entscheidungen zu leben? Oder hatten die naturalistischen
     Porträts von Stephen Crane ihnen gezeigt, was wahrer Heldenmut war? Hatte James Agee mit seinem Transzendenzverständnis ihnen
     beigebracht, einen Verlust zu bewältigen?
    »Himmelherrgott noch mal, Maus.«
    Mary Alices Stimme versetzte mir einen derartigen Schreck, daß ich wie von der Tarantel gestochen in die Höhe fuhr und die
     Jahrbücher mit einem dumpfen Knall auf dem Boden landeten.
    »Verdammt, was soll das, Schwesterherz!« zischte ich. »Wetten, daß Claire jetzt aufgewacht ist?«
    »Ich geh’ nachschauen.« Sie verschwand, war aber schon im nächsten Augenblick zurück. »Nein.«
    Ich hob die Bücher auf und versuchte meinen Herzschlag zu drosseln. »Wo kommst du denn jetzt her?«
    »Von zu Hause. Woher sonst?«
    »Ich meine, wie bist du so schnell hergekommen?«
    »Ich bin nicht angezogen.« Schwesterherz öffnete ihren Regenmantel und enthüllte ein kurzes, pinkfarbenes Nachthemd sowie
     reichlich Mary Alice. »Und es ist dein Glück, daß ich da |49| bin. Du warst drauf und dran, eine von deinen existentiellen Krisen zu bekommen, stimmt’s?«
    »Du würdest doch eine existentielle Krise nicht mal erkennen, wenn sie dich anspringt. Und, hast du wenigstens eine Unterhose
     an?«
    »Na hör mal, Patricia Anne. Denkst du, ich möchte, daß Mama sich im Grab umdreht? Wo wir gerade davon reden, du solltest wirklich
     deine Hintertür abschließen.«
    »Wie?« Mary Alices Gedankengängen zu folgen war nicht immer ganz leicht.
    »Da kann jeder rein.«
    Ich sagte: »Wie man sieht.«
    »Egal«, sagte Mary Alice und ließ sich aufs Bett plumpsen, »ich habe einen Exklusivbericht über Mercys Tod für dich, und außerdem
     wollte ich nach Claire schauen.«
    »Das ist wirklich zu gütig, Mrs.   Claus.« Aber ich setzte mich und hörte zu.
    »Bonnie Blue hat es mir erzählt, und sie hat es von James, und dem hat es Thurman erzählt, also stimmt es, okay?«
    Ich nickte.
    »Die letzten Gäste verließen die Galerie gegen elf, und Thurman sagt, er

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