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O du Mörderische

Titel: O du Mörderische Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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einem Job als Assistentin in einer Kunstgalerie. Ich fühlte mich schrecklich dabei, aber ich konnte
     nicht die Rechnung für die medizinische Betreuung von jemandem übernehmen, den ich kaum kannte.
    »Ins Morgan?« fragte der Mann, der anscheinend meine Gedanken erraten hatte. Das Morgan ist eine karitative Einrichtung, mit
     ausreichender medizinischer Versorgung, aber eben ein Krankenhaus für arme Leute.
    »Bringen Sie sie ins Memorial«, sagte Mary Alice, die neben mich trat. »Ich komme dafür auf.«
    In Momenten wie diesem verzeihe ich ihr alles.
    Der Krankenwagen traf mit Blaulicht und heulenden Sirenen ein. Die Nachbarn traten auf ihre Veranden hinaus, um zu sehen,
     wie Claire hineingehoben wurde.
    »Sie können mitfahren, wenn Sie wollen«, sagte der junge Rettungshelfer zu mir.
    |61| Claire war irgendwie aufgewacht, und obwohl sie nichts gesprochen hatte, hielt sie meine Hand den ganzen Weg bis zum Krankenwagen
     umklammert.
    »Ich schließe für dich ab«, sagte Mary Alice. »Laß mich nur kurz nach Hause gehen und mir was anziehen. Ich komme dann nach
     ins Krankenhaus.«
    Officer Mitchell und der Sanitäter halfen nach und schoben mich in den Rettungswagen hinauf. Mein Einstieg ließ an Anmut sehr
     zu wünschen übrig, und ich war nur froh, daß ich nach wie vor meinen Jogginganzug trug.
    Mein Leben war glücklicherweise ziemlich ereignislos verlaufen. Ich saß mit sechzig zum ersten Mal in einem Krankenwagen.
     Als wir beim Krankenhaus ankamen, war ich allerdings zu der Überzeugung gelangt, daß ich das Alter von sechzig gerade deshalb
     erreicht hatte, weil ich noch nie in einem Krankenwagen gefahren war. Der Fahrer, der offenbar seit etwa einer Woche seinen
     Führerschein hatte, raste wie ein Wahnsinniger. Anders kann man es nicht beschreiben. Er bretterte über Kreuzungen, brauste
     Seitenstreifen entlang und zeigte den bedauernswerten Passanten, die sich verzweifelt aus seiner Bahn zu retten versuchten,
     einen Vogel. Und die ganze Zeit über ließ er das Blaulicht an und die Sirenen heulen. Der junge Mann, der hinten bei mir und
     Claire saß, schien unbekümmert. Er überprüfte die Meßgeräte und blätterte dann ein Klatschmagazin durch. Dabei kaute er lässig
     auf einem Zahnstocher herum.
    »Fährt Ihr Kollege immer so abenteuerlich?« fragte ich ihn, während wir ein Dutzend Autos umkurvten und den Mittelstreifen
     entlangfegten.
    Er blickte von seiner Zeitschrift hoch, nahm den Zahnstocher aus dem Mund und grinste. »Er könnte glatt das Indianapolis-Rennen
     gewinnen, was?«
    Ich hielt es für das beste, nicht aus dem Fenster zu sehen. »Ist mit ihr alles okay?« Ich deutete auf Claire, die zu schlafen
     schien.
    |62| Der junge Mann schielte auf die Anzeigen. »Ich denke schon.«
    Es war nutzlos, dieses Gespräch weiterzuverfolgen.
    Das Memorial Hospital ist oben auf einen Berg gebaut, wie die meisten Krankenhäuser in Birmingham. Was bedeutet, daß wir während
     eines Schneesturms von der medizinischen Notversorgung abgeschnitten sind. Dann ergehen Notrufe an Leute mit Allradantrieb,
     und die Rundfunkstationen senden Hilfsaufrufe. Eine ganze Reihe von Babys in der Gegend wurde in irgendwelchen Geländewagen
     geboren.
    Der Krankenwagenfahrer schlingerte mit quietschenden Reifen um die Kurve, gab die steile Anfahrt zur Notaufnahme hinauf noch
     mal richtig Gas und machte direkt vor dem Eingang eine Vollbremsung. Wenn die Trage, auf der Claire sich befand, nicht festgeschnallt
     gewesen wäre und ich mich nicht verzweifelt festgeklammert hätte, wäre ich als erste im Krankenhaus gelandet.
    »Scheiße!« keuchte ich.
    Der Rettungshelfer grinste. »Tja, manchmal...«, bemerkte er und öffnete die Tür für die Rettungscrew, die aus dem Krankenhaus
     gelaufen kam.
    »Lassen Sie mich nicht allein«, flehte Claire. »Bitte lassen Sie mich nicht allein.«
    »Keine Angst, ich bleibe bei Ihnen.«
    Und das tat ich auch eine Stunde lang. Während dieser Zeit defilierte eine ganze Prozession von Ärzten und Krankenschwestern
     durch den kleinen Raum, in den Claire verfrachtet worden war, und versuchte ihre vollständige Krankengeschichte aufzunehmen.
    »Ist irgendeine Form von Diabetes bekannt?« fragten sie. Claire blickte sie ausdruckslos an. »Allergien? Herzkrankheiten?
     Hepatitis? Krebs? Lupus? Andere entzündliche Krankheiten?« Verständnisloser Blick.
    Dann drehten sich alle zu mir herum, so als könnte ich |63| ihnen die Erleuchtung bringen. Ich hatte die Patientin schließlich ins

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