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O du Mörderische

Titel: O du Mörderische Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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den bequemen
     Sesseln niedergelassen hatten, um sie in Ruhe zu lesen. Ich stellte fest, daß Ross Perry es auch auf die Titelseite des ›Montgomery
     Advertiser‹ geschafft hatte. Die Zeitung wurde lustigerweise von einem Mann gelesen, der mich an Ross erinnerte. Vielleicht
     wegen der Art und Weise, wie ihm das Licht auf den kahlen Kopf schien.
    Da waren so viele Fragen offen, dachte ich.
    »Mein Gott!« Ich schlug mir mit der Hand gegen die Stirn. Direkt hier waren die Antworten auf einen Großteil meiner Fragen.
     Ich hatte eine perfekte Informationsquelle übersehen. Ich kehrte um und rannte zum Aufzug. Das Archiv war voll mit Material
     über die Bedsoles. Sowie über Ross Perry. Seine gesammelten Kolumnen müßten dort sein. Und selbst die Protokolle der Needham-Gerichtsverhandlung.
     Ich konnte es gar nicht fassen, daß ich nicht früher daran gedacht hatte. Ich |201| machte innerlich einen Luftsprung, als ich über die Schwelle trat.
    Ich begann mit den Ross-Perry-Kolumnen, da ich nach ihnen nicht lange suchen mußte. Sie erschienen gewöhnlich in der Freitagsausgabe
     der Zeitung, auf den Seiten mit den Veranstaltungshinweisen fürs Wochenende, einem ausführlichen monatlichen Veranstaltungskalender,
     einer Auflistung und Besprechung neuer Filme, Fernsehshows, Lesungen und Kunstausstellungen. Ich nahm den Mikrofilm für das
     Jahr zuvor, legte ihn in den Apparat und fing an, die Kolumnen zu durchforsten. Viele davon hatte ich gelesen. Manche Ausstellungen
     bekamen bessere Rezensionen als andere, aber nie gab es einen völligen Verriß.
    Ich nahm den Film heraus und sprang fünf Jahre zurück, wobei ich erneut Ross’ Kolumnen überflog. Der Mann konnte schreiben.
     Ich als Englischlehrerin mußte das neidlos anerkennen. Was seinen kunstkritischen Sachverstand anging, so wußte ich nicht
     recht. In dem speziellen Jahr bekamen alle schwärmerische Besprechungen. Entweder war das ein bemerkenswertes Jahr für Birminghams
     Kunst gewesen, oder Ross Perry hätte eine neue Brille gebraucht, oder er hatte soeben das Super-Antidepressivum entdeckt.
     Ich spulte den Mikrofilm zurück und legte den von vor zehn Jahren ein.
    Und landete einen Treffer! In der Ausgabe vom 15.   Januar hatte Perry einen Artikel über die Eröffnung einer neuen Galerie in English Village geschrieben. Die Galerie selbst
     sei reizvoll, drei der ausgestellten Künstler hervorragend, die vierte im Bunde, die Newcomerin Mercy Armistead, langweilig,
     fade, amateurhaft. Obwohl offenkundig epigonal, würde die Benennung der Vorbilder die Originale beleidigen. Sie, Mercy, ruiniere
     die ganze Ausstellung mit ihrem völligen Mangel an Talent.
    Danach wurde die Besprechung noch schlimmer.
    »Mein Gott«, stieß ich laut aus.
    |202| Ich machte eine Bibliothekarin ausfindig, die mir sagte, wie ich die Rezension kopieren könne. Deshalb also hatte Mercy zehn
     Jahre später eine Cola-Büchse nach ihm geworfen und ihn in einen Pool gestoßen. Er war im Grunde selbst schuld. Als Ross dies
     geschrieben hatte, war Mercy Anfang Zwanzig gewesen, hatte also gerade am Beginn ihrer Laufbahn gestanden. Egal, wie schlecht
     ihre Arbeiten damals gewesen sein mochten – und wahrscheinlich waren sie gar nicht einmal so schlecht gewesen, denn sie hatte
     sich immerhin rasch einen internationalen Ruf erworben   –, eine solche Kritik war grausam ihr gegenüber und mußte sie zutiefst getroffen haben. Ich ließ den Film vorlaufen, fand
     aber keine derartigen Besprechungen mehr. Offenkundig hatte Ross schon vor zehn Jahren etwas gegen Mercy gehabt. Ich hatte
     jedoch keinerlei Anhaltspunkte, die mir etwas über die Gründe verraten hätten.
    Ich tippte den Namen »Bedsole, Betty« in die Suchmaske ein und stöberte das Band mit den Zeitungen von 1956 auf, dem Jahr,
     in dem sie Miss America gewesen war. Es gab Fotos von ihr, wie sie, einen riesigen Strauß Blumen im Arm, den Zug nach Atlantic
     City bestieg. Fotos von ihr als Gewinnerin des Badeanzug-Wettbewerbs (»Aufgeplusterte Gans«, hätte Mama gesagt), mit festen
     Körbchen für den Busen und mindestens sieben Kilo mehr, als jede Miss America von heute, die auch nur ein bißchen Selbstachtung
     hatte, sich zugestehen würde. Es gab auch Fotos von ihr als Siegerin des Talentwettbewerbs – als Scarlett, die eine Karotte
     umklammerte und schwor, daß sie nie wieder hungern würde. »Da blieb kein Auge trocken«, hatte der Reporter notiert.
    »Gut möglich«, murmelte ich. Ich mußte allerdings

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