Oase der Versuchung
selbst. Das konnte nur eins bedeuten: dass er auch mehr zu verlieren hatte als die anderen Familienmitglieder.
Und genau dafür würde sie sorgen.
Gespannt hielt sie den Atem an.
Leider beeinträchtigten ihre Wut und Entrüstung – und vor allem er – ihr sonst so verlässliches Urteilsvermögen …
Er senkte den Blick und ließ sie damit zum ersten Mal aus den Augen.
Als sie seine schön geschwungenen langen Wimpern betrachtete, klopfte ihr Herz sehr schnell.
Wenn er mich das nächste Mal ansieht, dachte sie, wird es nicht mehr voller Freundlichkeit und Sympathie sein, sondern skrupellos und kalt.
Aus den Versuchen, sie zu verführen, würde eine Art Vernehmung werden. Und er selbst würde sich vom Befreier in eine Art Gefangenenwächter verwandeln …
Als er sie wieder ansah, wäre sie fast in seine Arme gesunken. Seine wunderbaren hellbraunen Augen strahlten vor Energie. Von ihnen ging eine Art gleichmäßiger und beruhigender Kraft aus, und Talia spürte, wie ihr gesamter Körper davon durchdrungen wurde. Wollte er sie womöglich hypnotisieren?
Selbst jetzt, da sie wusste, wer er war, gelang es ihm noch um Haaresbreite, sie um den Finger zu wickeln. Ganz klar, sie hatte ihn unterschätzt.
Nun weiß er, dass er mit mir als Gegnerin rechnen muss. Aber trotzdem hält er die Fassade von Sympathie und Freundlichkeit aufrecht. Auch jetzt zeigt er sich nicht als mächtiger Prinz, der es gewohnt ist, dass man vor ihm kuscht. Offenbar ist er ein Menschenkenner, denn er muss gemerkt haben, dass Einschüchterung bei mir nichts bringt. Diese Karte spielt er nicht aus – jedenfalls noch nicht.
Prinz Hassan Aal Shalaan gehörte nicht einfach nur zur königlichen Familie. Er hatte viele charakterliche Vorzüge, die ihn für seine Position qualifizierten, zum Beispiel Ausdauer und Selbstdisziplin. Außerdem war er intelligent und vorausschauend. Und er meisterte auch schwierige Situationen souverän. Er verstand etwas von Psychologie und hatte eine starke Ausstrahlung. Sicher fand er überall Menschen, die bereit waren, ihm zu folgen … Für kurze Zeit hatte auch sie zu diesen Menschen gehört – aber jetzt nicht mehr.
Mit seiner angenehmen Stimme, die Talia tief im Inneren berührte, sagte er: „Ich weiß nicht, was Sie über uns gehört haben, aber wir Aal Shalaans sind keine Tyrannen.“
„Sie erwarten jetzt aber nicht, dass ich Ihnen das glaube?“
„Doch. Bitte. Zumindest vorerst. Beweisen kann ich es Ihnen ja im Augenblick leider nicht. Aber der Zeitpunkt wird kommen. Vertrauen Sie mir.“
„Wie könnte ich das?“
„Warum sagen Sie mir nicht einfach Ihre Kritikpunkte, damit ich etwas zu meiner Verteidigung vorbringen kann?“
„Ich bin sicher, dass Sie einiges vorbringen und Tatsachen verfälschen können … Aber das hier ist keine Gerichtsverhandlung, und ich bin nicht Ihre Richterin. Sondern einfach nur jemand, der die Wahrheit kennt. Und dafür suche ich Beweise.“
„Und was möchten Sie beweisen?“
„Dass Sie eben nicht über jeden Vorwurf erhaben sind – auch wenn Sie sich so darstellen.“
Seufzend zuckte er die rechte Schulter. Als er sprach, war ihm anzumerken, wie sehr er um Talias Verständnis rang. „Menschen in Machtpositionen werden immer Gegner haben. Ein Land zu regieren ist kein Zuckerlecken. Immer wieder werden Gesetze und Verordnungen, egal für welche Lebensbereiche, infrage gestellt. Oft lässt sich die Gegenposition ebenfalls gut vertreten. Selbst in meinen eigenen Ressorts führen meine Entscheidungen manchmal zu Verstimmungen. Trotzdem bin ich kein schlechter Mensch. Ich habe noch nie etwas Verbotenes getan.“
„Weil Sie viel zu clever sind, um sich öffentlich etwas zuschulden kommen zu lassen. Trotzdem legen Sie Gesetze zu Ihren Gunsten aus, beugen damit das Recht und schaden den Menschen. Dass Sie sich die königliche Familie nennen, macht das Ganze nicht weniger verwerflich. Viele sogenannte Herrscher werden eines Tages abgesetzt und zur Verantwortung gezogen. Und so wird es Ihnen früher oder später auch ergehen – hoffentlich bald.“
Jetzt hatte sie es geschafft. Nun stand sie auf seiner schwarzen Liste bestimmt ganz oben … Spätestens jetzt würde er die Maske fallen lassen, nahm Talia an – aber nichts Derartiges geschah.
Ernst erklärte er: „Natürlich ist es Ihr gutes Recht, das zu glauben, Talia. Trotzdem möchte ich Ihnen auch meine Sicht der Dinge schildern. Ganz egal, wer Sie sind, ich hätte Sie auf jeden Fall befreit. Und wen ich
Weitere Kostenlose Bücher