Obduktion

Verfügung. Denn wir möchten uns gerne Ihrer Gesundheit annehmen. Bitte kommen Sie wieder mit in mein Büro. Ich zeige sie Ihnen am Computer.«
    Jack staunte über die Mühe, die sich Newhouse machte, um einen neuen Patienten zu gewinnen. Bis zu dieser letzten Bemerkung hatte sich Jack noch gewundert, warum Newhouse so großzügig mit seiner Zeit war.
    Jack begab sich hinter Newhouses Schreibtisch, sodass beide auf den Monitor sehen konnten. Newhouse öffnete eine seitliche Röntgenaufnahme der Halswirbel, angeblich von einem seiner Patienten. Die Aufnahme wurde von einer Anzahl roter Linien überlagert, die sich in sorgfältig vermessenen Winkeln kreuzten. Das wirkte alles sehr fundiert, wie ein kompliziertes System, um die Aufnahme zu analysieren. Aber je länger Jack das Röntgenbild und die vielen roten Linien betrachtete, desto sinnloser erschienen sie ihm. Das Einzige, was ihm auffiel, war der Kopf des Patienten. Der war so weit nach vorn gebeugt, dass sein Kinn praktisch auf dem Brustbein ruhte.
    »Auf dieser ersten Aufnahme von einem typischen Patienten«, erklärte Newhouse, »verläuft die Krümmung der Halswirbelsäule genau andersherum, als es normal wäre. Wie Sie sehen, verlässt die Wirbelsäule den Schädel nicht in einer Krümmung nach vorne, wie es eigentlich sein sollte, sondern eher nach hinten. Dies hier war also die erste Aufnahme, bevor die Therapie begann. Ich werde Ihnen jetzt spätere Aufnahmen von diesem Patienten zeigen, und dann sehen Sie sich einmal an, wie sich die Halswirbelsäule im Verlauf der Therapie verändert hat.«
    Jack betrachtete die nachfolgenden seitlichen Röntgenbilder und konnte deutlich erkennen, wie sich die Halswirbelsäule allmählich von hinten nach vorne neigte. Aber gleichzeitig konnte er auch erkennen, dass die Veränderung nicht von irgendeiner Therapie herrührte, sondern dadurch zustande kam, dass der Patient auf jeder Aufnahme den Kopf etwas mehr anhob.
    »Ganz schön beeindruckend, nicht wahr?«, gurrte Newhouse.
    Jack blickte vom Monitor auf den Mann, der die letzte Aufnahme aus seiner Präsentation bewunderte wie ein Kunstwerk. Dabei handelte es sich nur um eine Trickserei mit Röntgenbildern mit dem Ziel, die arglose Öffentlichkeit zu täuschen. Newhouse und seinesgleichen verliehen der Chiropraktik einen falschen Schein von Seriosität, indem sie auf etwas zurückgriffen, das in den Händen der konventionellen Medizin ein anerkanntes Hilfsmittel war. Das war nicht nur betrügerisch, es war außerdem äußerst gefährlich, Menschen dieser schädlichen Strahlung auszusetzen.
    Newhouse gab sich überrascht, als er sich umdrehte und feststellte, dass ihn Jack schweigend anstarrte. Der Chiropraktiker verwechselte Jacks Gesichtsausdruck mit bewundernder Anerkennung. »Lydia wird gern einen Termin mit Ihnen vereinbaren. Ich bin sicher, dass wir in diesem Monat noch eine Lücke finden werden, wenn Ihre Symptome so lange warten können. Wir sind mit Nachfolgeterminen ziemlich ausgebucht, und Erstbesuche dauern wegen der Diagnostik und der Röntgenaufnahmen immer deutlich länger. Glauben Sie nicht, dass die entspannte Situation heute typisch ist. Montagnachmittags haben wir immer Fortbildungen, daher die wenigen Patienten. Aber normalerweise ist hier die Hölle los.«
    Jack konnte nicht glauben, was in diesem Büro vor sich
ging. Wäre es nicht so erbärmlich, dann wäre es witzig gewesen. Newhouses Motive zu verstehen, war eine Sache. Aber was war mit den Patienten? Nichelle Barlow wirkte intelligent und gebildet. Weshalb war sie dann so dämlich, diesem Mann zu vertrauen, der mit einer fragwürdigen Therapie hausieren ging, die auf der Schnapsidee einer immanenten Intelligenz basierte?
    »Mr Stapleton?«, fragte Newhouse. »Hallo! Ich hatte nicht vor, Sie derart zu überwältigen. Sind Sie in Ordnung? «
    Jack schüttelte seinen leichten Trancezustand ab. »Vorhin, am Anfang unseres Gesprächs«, begann er, »erzählten Sie mir, dass es einige Abweichler unter den Chiropraktikern gegeben hat. Irgendwie sind wir vom Thema abgekommen, und Sie haben nicht zu Ende gebracht, was Sie erzählen wollten.«
    »Da haben Sie recht. Wir sprachen über Daniel David Palmer, den Gründer der Chiropraktik, und sind dann auf Davenport in Iowa gekommen, wo er die erste Schule für chiropraktische Medizin eröffnet hat.«
    »Und was für Abweichler meinten Sie?«
    »Ganz einfach! In den Neunzigerjahren ließen sich einige Chiropraktiker von konventionellen Ärzten so weit