Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
höher, wodurch sein Rükken etwas gerader wird und seine Stirn sich von der Scheibe löst. »Die Nebelkrähe ist weg«, sagt er.
»Was?«
»Die Nebelkrähe, sie ist weggeflogen.«
Was ich unten durchs vordere Küchenfenster nicht gesehen habe, sehe ich jetzt, an Vater vorbei: Der Ast in der krummen Esche ist leer.
»Sie hat nicht auf mich gewartet.«
»Nein, natürlich nicht, was ist das auch für ein Quatsch!«
»Ich hatte es geglaubt.« Seine Arme fangen an zu zittern, und sein Kopf wackelt.
»Aber es wär schon schön gewesen«, sage ich leise.
»Was?«
»Geh mal in dein Bett zurück«, sage ich.
»Das kann ich nicht.«
»Warum nicht? Zum Fenster konntest du doch auch gehen?!«
Langsam dreht er sich um, seine rechte Hand läßt die Fensterbank nicht los. Er fixiert sein Bett wie ein zögernder Weitspringer den Absprungbalken. Mit winzigen Schrittchen schlurft er vom Fenster weg. »Ich schaff es nicht«, sagt er nach der halben Strecke.
»Aber ja«, antworte ich, »nicht aufgeben.«
Er schafft es nicht. Ich stehe bereit, um ihn aufzufangen. Ich hebe ihn hoch und trage ihn ums Bett herum. Als ich ihn hinlegen will, klingelt das Telefon. Was soll’s, wenn ich abnehme, höre ich bestimmt wieder nur dieses atemlose Schweigen. Es klingelt siebenmal. Ich lege Vater ins Bett.
»Ich kann gehen«, sagt er, noch außer Atem.
»Weißt du, wer tot ist?« frage ich.
»Nein.«
»Arie.«
»Welcher Arie?«
»Der Milchfahrer.«
»Nein!«
»Doch.«
In der Tür seines Zimmers steckt kein Schlüssel. Außen in Henks Zimmertür auch nicht. Ich öffne sie und setze mich auf Henks Bett. Innen steckt der Schlüssel. Ich lege mich hin. Die Vorhänge sind zu, es ist dämmrig im Zimmer. Während ich an die Decke starre, kommt mir der Gedanke, daß alles ganz anders wäre, wenn ich jemanden hätte; wenn ich verheiratet wäre, Kinder hätte. Wenn man eine Familie hat, kann man seinen Vater ruhigen Gewissens ins Heim geben.
Ich stehe auf, ziehe den Schlüssel ab, gehe in den Flur und stecke den Schlüssel in das Schloß von Vaters Tür. Er paßt; aber erst, als ich ihn umdrehe, merke ich, daß er wirklich paßt. Aus dem Zimmer kommt kein Kommentar. Ich nehme den Schlüssel aus dem Schloß und behalte ihn einen Moment in der Hand, dann stecke ich ihn zurück.Die beiden Schlafzimmer liegen rechts vom oberen Flur. Gegenüber von der Treppe gibt es ein Dachfenster, das wenig Licht hereinläßt; hier oben ist immer Abend. Am Ende des Flurs links, neben dem Dachfenster, ist ein drittes Zimmer, kleiner als die beiden Schlafzimmer. Es liegt über der Milchkammer und nimmt vielleicht ein Drittel von deren Fläche ein. »Das neue Zimmerchen« hat Mutter es bis zu ihrem Tod genannt. Ich kann mich nicht erinnern, für welchen Zweck dieser Raum ursprünglich bestimmt war; er wurde gleichzeitig mit der Milchkammer angebaut, irgendwann in den sechziger Jahren, und ist seitdem ungenutzt geblieben. Ich bin so gut wie nie im neuen Zimmerchen. Die Tür ist immer geschlossen. Auf dem Boden liegt der gleiche dunkelblaue Teppichboden wie in den beiden Schlafzimmern. Es ist ein ganz seltsames Zimmer, das spüre ich, als ich jetzt hineingehe, zum ersten Mal nach langer Zeit. Obwohl es muffig riecht, hängt auch noch der Geruch des Neuen in der Luft, ein Geruch nach gerade beendeten Ausbauarbeiten. Das Kippfenster in der Dachschräge ist ziemlich groß, weshalb es hier längst nicht so dunkel ist wie im Flur. Aber der Raum ist leer, es gibt keinen Grund, ihn zu betreten.
Durchs Fenster sehe ich die Esel im hintersten Winkel der Eselkoppel stehen. Ich habe sie heute früh wieder aus dem Stall geholt. Sie sind immer zusammen, nur wenn sie rennen oder traben, passiert es schon mal, daß sie plötzlich getrennt sind, und dann können sie vor lauter Schreck gar nicht schnell genug wieder zusammenkommen. Bevor ich nach unten gehe, öffne ich das Fenster ein kleines Stück.
Es war das Bettengeschäft. Ein paar Stunden später ruft der joviale Bettenverkäufer ein zweites Mal an und sagt,daß er es schon einmal versucht habe. Morgen kommt das Bett. Ich möchte wissen, um wieviel Uhr. Das könne er so genau nicht sagen, »irgendwann im Laufe des Vormittags«. Bevor er auflegt, rät er mir noch, einen Anrufbeantworter anzuschaffen; das sei praktisch, für den Fall, daß jemand eine Nachricht hinterlassen wolle.
Hinter dem Hühnerhaus, dem Eselstall und dem Misthaufen, am Rand des Grabens, stehen acht Weiden. Sieben davon stehen schön gerade, eine
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