Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
Vielleichtweißt Du ja nicht einmal mehr, wer ich bin! Wir haben uns mehr als drei Jahrzehnte nicht gesehen oder gesprochen, und das macht es natürlich nicht gerade einfach, diesen Brief zu schreiben.
Ich will gleich ehrlich sagen, daß ich Dir jetzt schreibe, weil ich annehme, daß Dein Vater mittlerweile nicht mehr lebt. Habe ich recht? Euer Vater war immer das größte Hindernis, wenn es darum ging, mit Dir Verbindung aufzunehmen. Ich meine das nicht böse, und vielleicht tue ich Dir ja auch weh, weil der (mögliche) Tod Deines Vaters Dir Kummer bereitet.
Soll ich Dir nun wirklich alles schreiben, was in meinem Leben passiert ist? Also, in Kürze: Ich bin nach Brabant zu Verwandten gezogen und habe dort bald einen Schweinebauern geheiratet. Wir haben zwei Töchter und viel später noch einen Sohn bekommen. Meine Töchter sind schon lange aus dem Haus. Mein Mann (er hieß Wien, ja, ein etwas seltsamer Name) ist voriges Jahr gestorben. Mein Sohn wohnt noch zu Hause, er ist vor kurzem achtzehn geworden.
Ich will auch ehrlich sagen, daß ich schon vor diesem Brief versucht habe, mit Dir in Verbindung zu treten. Einmal bin ich mit dem Rad mitten in der Nacht zum Hof gefahren und eine Weile davor stehengeblieben. Ich habe Dich oben am Fenster gesehen (von Deinem Vater keine Spur). Ich war bei meiner Tante in Monnickendam zu Besuch (ja, die lebt noch, sie ist jetzt dreiundachtzig. Kennst Du sie? Sie kennt Dich nicht), die ich bestimmt fünfzehn Jahre nicht gesehen hatte. Sie wußte gar nicht, welchem Umstand sie diese Ehre zu verdanken hatte. Später habe ich einmal an der Tür geklingelt, aber dann habe ich es plötzlich mit der Angst zu tun bekommen und bin schnell weggefahren. Außerdem habe ich Dich angerufen, und als ich dann DeineStimme hörte, war ich so feige, daß ich aufgelegt habe. Aber Du verstehst sicher, daß es für mich nicht leicht ist, Dich zu sehen oder zu hören. Als ich Deine Stimme hörte, sah ich Henk bei Euch im Flur stehen.
Ein Brief erschien mir doch als das Einfachste, aber jetzt beim Schreiben merke ich, daß es mir schwerfällt. Darf ich Dir noch einmal schreiben? Oder sollen wir telefonieren? Ich schreibe Dir unten meine Telefonnummer auf.
Also, Helmer, ganz viele Grüße von Riet.
PS: Ich möchte Dich eigentlich etwas fragen.
Der Brief ist, wie die Adresse auf dem Umschlag, mit der Hand geschrieben. Keine Anschrift, nur eine Telefonnummer. Ich mache den Rechnungsumschlag nicht auf.
Mittags kommt ein Lastwagen mit Hubsteiger von der Gemeinde – und das am Wochenende. Ein Mann steuert das Ungetüm vom Boden aus, ein zweiter macht sich am Schirm der Straßenlampe zu schaffen. Ich stehe hinter der Jalousie im Wohnzimmer und schaue ihnen bei der Arbeit zu, ich glaube nicht, daß die Männer mich sehen können. Erst als sie fertig sind, verlasse ich meinen Platz am Fenster. Ich lege mich auf das neue Bett. Unruhig bin ich, es ist das gleiche Gefühl wie an dem Tag, als ich den Schwarm mit den verschiedenen Vögeln sah und meine Schafe mich wie Angehörige eines Erschießungskommandos anstarrten. An Schlaf ist nicht zu denken, alles mögliche schwirrt mir durch den Kopf, nichts davon bleibt hängen. Die Renovierung von Wohnzimmer und Schlafzimmer, das Kappen der Weiden, Jarno Koper in Dänemark, die Beerdigung des alten Milchfahrers, die Nebelkrähe in der Esche. Der Kauf des neuen Betts, auf dem ich jetzt liege, und dasmüßte doch einschläfernd wirken, aber meine Unruhe ist zu groß.
Ein Brief von Riet.
15
Am 19. April 1967 war ich mitten im dritten Trimester meines ersten Studienjahrs im Fach Niederländische Sprach- und Literaturwissenschaft. Ich glaube, ich war der eifrigste Student meines Jahrgangs, nicht weil ich von Natur aus arbeitswütig und ehrgeizig gewesen wäre,
sondern weil ich Vater etwas beweisen wollte. Ich bekam keine Beihilfe, weil sein Vermögen zu groß war. »Vermögen«, das stand im Ablehnungsbescheid des
Ministeriums für Bildung und Wissenschaft, Abteilung Studienbeihilfen, und er und ich wußten, woraus dieses Vermögen bestand: Land, Gebäude, Kühe und
Maschinen. »Soll ich vielleicht Kühe verkaufen, damit du studieren kannst?« fragte Vater, als ich ihm den Brief zeigte. Er wartete meine Antwort
nicht ab, sagte nichts weiter, zerknüllte den Brief und warf ihn, weil er nicht in der Nähe des Mülleimers stand, in die Spüle. Hätte er ein Feuerzeug
oder Streichhölzer bei sich gehabt, hätte er den Brief verbrannt. Henk stand auch in der
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