Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
auf den Rand des Milchtanks und schaut abwechselnd in den Tank und auf den Schlauch vor seinen Füßen. Ich möchte ihn mit seinem Namen begrüßen, aber wenn ich ihn sehe, fällt mir nie ein, wie er heißt, deshalb erwidere ich seinen Gruß mit einer Kopfbewegung.
»Arie ist tot«, sagt er. Nicht einmal eine Mitteilung wie diese vertreibt das Lächeln aus seinem Gesicht.
»Tot? Wieso?«
»Herzinfarkt.«
»Wann?«
»Vorgestern. Bei ihm zu Hause.«
»Und ich hab neulich noch gedacht, in ein paar Jahren wird er wohl in Rente gehen.«
»Ja, er wollte mit sechzig aufhören.«
»Wie alt war er?«
»Achtundfünfzig.«
»Achtundfünfzig.«
»Viel zu jung.« Der Tank ist leer. Er schraubt den Schlauch ab, und der letzte Rest Milch läuft in den Abfluß. Dann kurbelt er den Schlauch auf die Rolle am Heck des Milchwagens. »Viel zu jung«, sagt er noch einmal. Er bleibt vor mir stehen, die Beine leicht gespreizt, Hände in den Hüften. Immer dieses Lächeln, ein schiefes Lächeln mit Zähnen. »Du mußt bis auf weiteres mit mir vorliebnehmen«, sagt er.
»Um Himmels willen«, antworte ich.
Jetzt geht das Lächeln in richtiges Lachen über, hörbar und mit noch mehr Zähnen. Er verabschiedet sich nicht, als er zum Fahrerhaus geht. Wir haben die Todesnachricht weggelacht, und das darf man nicht durch Reden verderben. Er öffnet die Tür und springt elastisch zu seinem Sitz hinauf. Das blaue Hosenbein spannt sich um den Oberschenkel seines Sprungbeins, das einem Eisschnelläufer gehören könnte. Ich folge dem abfahrenden Wagen auf den Hof hinaus. Wenn der Milchfahrer in den Rückspiegel schaut, kann er mich hier stehen sehen, wie letzten Sommer der rotblonde Junge. Es regnet, die Esel dösen mit gesenkten Köpfen in der Nähe des Gatters; wenn der Regen nichtaufhört, hole ich sie in den Stall. Mein Blick schweift über den nassen Hof.
Alt, mürrisch und tot, denke ich.
Bis zu seinem Tod waren wir Henk und Helmer, obwohl ich der Ältere bin. Noch vor kurzem habe ich meinen Mittagsschlaf auf seinem Bett gemacht. Jetzt nicht mehr, weil sein Zimmer mit all dem Gerümpel vollgestellt ist und weil nebenan Vater liegt. Ich schlief dann mit angezogenen Beinen auf der Seite, wie früher, wenn wir zu zweit im Bett lagen. Neuerdings lege ich mich mittags aufs Sofa. Seit Ada diese Bemerkungen über mein Bett gemacht hat, fühle ich mich darin auch nicht mehr wohl, vor allem tagsüber nicht. Vor ein paar Tagen bin ich nach Monnickendam gefahren, um ein neues Bett zu kaufen. Ich habe mich für ein Boxspringbett entschieden, das eigentlich nur aus Matratzen besteht, auf ganz kurzen Beinen. Es wird demnächst geliefert, sie rufen vorher noch an. »Mit Sicherheit vor Weihnachten«, hatte der Bettenverkäufer in seiner jovialen Art gesagt. In einem anderen Laden habe ich eine Steppdekke und zwei Bettbezüge gekauft. Einen hellblauen und einen dunkelblauen, ich verlasse mich auf Adas Urteil. Die Steppdecke liegt noch in ihrer Plastikverpackung in einer Ecke des Schlafzimmers. Auch die beiden Kissen sind noch unausgepackt. Ich hatte ein Kissen verlangt, aber die Verkäuferin (ein junges Ding mit schwarzen Zöpfen) fragte mit solchem Nachdruck »Eins?«, daß ich nichts anderes antworten konnte als: »Nein, zwei natürlich.« Erst wenn das Bett geliefert wird, werde ich alles auspacken, und bis dahin schlafe ich unter den ausfransenden Wolldecken mit dem schmalen Laken.Henk und Helmer, und nicht Helmer und Henk. Ich gehöre zu den Menschen, die keinerlei Erinnerungen aus ihren ersten vier oder fünf Lebensjahren haben. Und wenn doch einmal eine Erinnerung hochkommt, habe ich sie im Verdacht, nicht ganz echt, sondern eingeflüstert zu sein, auf Erzähltes zurückzugehen. Erst in den fünfziger Jahren fängt alles an. Wie oft Vater uns in den Jahren davor geschlagen hat, weiß ich nicht.
Unser Doppelpack konnte ihn rasend machen, immer sah er sich zwei Jungen gegenüber. Er glaubte, daß wir uns gegen ihn verschworen hatten, daß wir alles, was ihn ärgerte, mit böser Absicht taten und daß wir ihm so unschuldig ins Gesicht sahen, um ihn zu reizen. Ich bekam die meisten Schläge ab, weil ich der Ältere war, also wohl auch »alles ausgeheckt« haben würde. Er drosch mit bloßen Händen auf uns ein, und wenn er Zeit dafür fand, streifte er einen seiner Klompen ab und schlug uns damit auf den Hintern, manchmal auch auf den Rükken. Mein Name mußte etwas damit zu tun haben, dachte ich. Helmer ist ein Name von Mutters Seite, Henk ist
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