Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
Wohnzimmer, und nachts konnte ich nicht schlafen, weil ich Angst hatte, daß ich ihn riechen
könnte. Zwei Tage nach dem Unfall bin ich für ein paar Vorlesungen nach Amsterdam gefahren. Auf dem Hinweg habe ich sehr lange am höchsten
Punkt der Schellingwouder Brücke gestanden und zu den Oranjeschleusen hinübergestarrt. Daß ich am 19. eine Vorlesung zur historischen
Sprachwissenschaft hatte, weiß ich noch genau, weil Mutter bei meiner Rückkehr zu mir sagte, daß Henk tot sei. An die Vorlesungen, die ich
vor oder nach diesem Datum hatte, kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Auf dem Rückweg habe ich wieder sehr lange am höchsten
Punkt der Schellingwouder Brücke gestanden und vor mich hingestarrt, diesmal übers Buiten-IJ; ich konnte mich nicht dazu aufraffen, wieder in
die Pedale zu treten. In diesem Jahr wurde das zehnjährige Bestehen der Brücke gefeiert. Ich wußte, daß man mich vergessen würde, Vater und
Mutter waren die Eltern, Riet die Beinahefrau, ich war nur der Bruder.
Seit diesem Tag führen fast alle meine Wege nachNorden, weiter Richtung Süden als bis zum Dorf fahre ich nicht mehr.
Nach der Beerdigung zitterte Riet immer noch, schon seit Tagen durchfroren vom eiskalten IJsselmeerwasser und vom Schuldgefühl. Die Trauergäste waren gegangen, wir saßen zu viert in der Küche, Riet auf Henks Platz, mit dem Licht des Seitenfensters im Rücken. Vater hob seine leere Kaffeetasse und schüttelte sie, so daß der Löffel darin klapperte; dabei starrte er hartnäckig auf die Tischplatte. Mutter stand auf und goß ihm schweigend Kaffee ein. Henk hatte das auch manchmal getan, den Löffel in seiner Tasse springen lassen, aber er hatte mich dabei lächelnd angesehen und sich bei Mutter bedankt, wenn sie ihm eingegossen hatte. Ich sah, daß Riet Vater anschaute. Er rührte einen Fetzen Milchhaut durch seinen Kaffee. Dann blickte sie mich an. In ihren Augen sah ich etwas von dem verstörten Ausdruck, mit dem sie in der Kneipe zu mir hingeschaut hatte, an dem Abend, als sie Henk begegnet war. Ich kann mich nicht erinnern, daß wir gesprochen hätten. Wenn sie sprach, dann mit Mutter. Es war eine Woche des Schweigens.
Sie wird wohl irgendeine Arbeit gehabt haben, ich habe es vergessen. Drei Tage später war sie immer noch bei uns, sie schien nicht zu wissen, wie es mit ihr weitergehen sollte. Mutter ließ sich von ihr anstecken. Zusammen wanderten sie draußen herum, oft zog es sie zur Bosman-Mühle, als wüßten sie beide, daß dort eine wichtige Henk-Stelle war. Sie aß mit uns, und das war selbstverständlich. Jedenfalls für Mutter und mich. Nicht für Vater. An dem entscheidenden Abend, wenn ich richtig rechne, muß es der 26. April gewesen sein,schwieg er beim Essen stur vor sich hin. Dann, kurz nachdem er sich mit der Gabel ein großes Stück Kartoffel in den Mund geschoben hatte, sagte er etwas zu Riet; sonst hatte er in dieser Woche des Schweigens kaum ein Wort an sie gerichtet. »Ich möchte, daß du weggehst und nie wiederkommst.«
Sie legte ihr Messer und ihre Gabel – Riet war die einzige, die mit Gabel und Messer aß – ordentlich neben ihren halb geleerten Teller, schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Gut«, sagte sie ruhig, als hätte sie das erwartet – als hätte sie nur darauf gewartet. Dann ging sie in den Flur, zog ihren Mantel an und verließ das Haus durch die Vordertür. Mutter fing an zu weinen. Ich stand auf und ging zum Fenster. Ich sah sie auf die Straße einbiegen, auf ihrem Rad. So habe ich Riet in Erinnerung: mit dem leicht gebeugten Rücken (sie hatte Gegenwind), mit ihrem flatternden blonden Haar, eine Radfahrerin auf einer schmalen, leeren Straße, die zum Deich hin immer leerer wurde. Sie verschwand, wie im November das rote Rücklicht, hinter der Fensterlaibung.
Vater hatte noch mehr zu sagen. »Und du bist fertig da unten in Amsterdam.«
Ich wurde Vaters Junge. Mutter weinte.
16
Auf dem Eis. Nach vier Frostnächten ist das Groote Meer bis auf eine längliche Wake in der Mitte zugefroren. Wenn ich die Enten, Teichhühner und Bläßhühner im Auge behalte, werde ich nicht einbrechen. Noch sind keine Amsterdamer da, sie wissen nicht, daß es schon so weit ist. Während der letzten richtigen Frostperiode voretlichen Jahren habe ich mir Rennschlittschuhe gekauft, weil ich Kurven laufen wollte. Mit Holzschlittschuhen kann man keine Kurven laufen. Jetzt laufe ich Kurven, immer schneller, immer weiter. Versuche die steifen Knie noch
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