Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Titel: Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
Vom Netzwerk:
stärker zu beugen. Je schneller ich laufe, desto weniger Risse bilden sich im stellenweise schwarzen Eis. Vor Weihnachten auf dem Eis, das ist lange her. Ein knappes Dutzend Shetlandponys starrt mich dümmlich an, sie sehen kein Eis, sie sehen nur spiegelglattes Wasser. Als meine Knie und mein Kreuz nicht mehr können, muß ich auch schon bremsen, weil ich sonst ins strohtrockene Dickicht am Ostufer des Sees krachen würde. Wenn es weiter so friert, kann ich in ein paar Tagen nach Monnickendam laufen und vielleicht sogar eine Runde über Watergang oder Ilpendam machen.
    Ich habe ohne Henk und ohne Vater Schlittschuhlaufen gelernt. Vater hat Angst vor gefrorenem Wasser, obwohl er das nie zugeben würde. Alles machten wir zusammen, Henk und ich, außer Schlittschuhlaufen. Der Knecht brachte es mir bei, Mutter ermutigte mich. Sie lief mit Kunstlaufschlittschuhen, drehte elegante kleine Runden, lief Achter und rief immer wieder »Gut so!« Der Knecht zog mich nicht, wie es meines Wissens üblich ist, wenn man jemandem Schlittschuhlaufen beibringt, er schob mich. Seine großen Hände lagen auf meinem Gesäß wie die Sitzfläche eines Stuhls, er lief mit stark gebeugten Knien. Wenn ich »Halt« rief, bremste er und hielt mich fest, indem er mir die Hände um die Hüften legte. In meiner Erinnerung ist er stundenlang so mit mir hin und her gelaufen. Auch noch, als Mutter längst mit ihren Achtern fertig war. Aber wahrscheinlich war es anders. Wahrscheinlich ist Vater nach einiger Zeit angestiefelt gekommen, um ihn in scharfem Ton daran zu erinnern, daß es wohl Wichtigeres zu tungäbe, als sich auf dem Eis zu amüsieren. Außerdem wird er mich – einen Knirps von sechs oder sieben Jahren – mahnend angeschaut haben, weil Henk gerade das Jungvieh versorgte. Oder Eier einsammelte oder vielleicht Kuhschwänze trimmte. Mutter wird bedrückt in der Küche hantiert haben, weil sogar sie eins aufs Dach bekommen hatte. Schlittschuhlaufen mit dem Knecht, was fiel ihr ein?

    Es ist denkbar, daß Vater an diesem Tag – schlicht und einfach, weil ich mich mit etwas anderem amüsierte – stillschweigend entschieden hat, daß Henk Bauer werden sollte. Obwohl ich der Ältere bin, wenn auch nur mit ein paar Minuten Vorsprung. Henk half Vater, ich ging Eislaufen und tat so, als wäre der Knecht meinesgleichen. Vielleicht war das auch nur ein Vorfall in einer ganzen Reihe von Vorfällen, die Vater zu der Überzeugung brachten, daß ich nicht zu seinem Nachfolger taugte. Als Henk starb, mußte Vater mit mir vorliebnehmen, aber in seinen Augen bin ich immer zweite Wahl geblieben.

    Mit wenigen weit ausholenden Schritten laufe ich zu der Stelle im Schilf, an der meine Klompen stehen. Ich ziehe die Schlittschuhe aus und beobachte dabei die Wasservögel. Vater nennt Teichhühner und Bläßhühner »Wasserhühner«, weil er sie nicht auseinanderhalten kann. Ich werde im Laufe des Tages mal nachschauen, wie die Eisblumen auf seinen Fensterscheiben gedeihen.
    Eisblumen erinnern mich an Henk, an sein warmes Bett.

    Noch bevor ich die Straße erreiche, sehe ich den kleinen Lastwagen des Viehhändlers auf den Hof einbiegen. Ichbeeile mich nicht. Er wird mich suchen gehen, und bis er überall gewesen ist, bin ich zu Hause. Meine Gedanken bleiben an dem Wort »überall« hängen, und sofort sehe ich den Viehhändler mit zappelnden Zehen auf dem blauen Teppichboden vor Vaters Bett stehen, die Mütze in der Hand, ernst und schweigend. Vater schweigt nicht, der quasselt und quackelt und hört nicht auf, bis ich ins Zimmer komme. Ich beeile mich, das bereifte Gras knistert unter meinen Klompen. Halb springend, halb kletternd schwinge ich mich über den letzten Zaun und renne auf den Hof.
    Der Viehhändler kommt aus dem Anbau, in dem das Jungvieh steht. Als er mich sieht, will er die Mütze vom Kopf ziehen, überlegt es sich dann aber anders. »Du hast da ein paar feine Kälber«, sagt er.
    »Ja«, antworte ich, noch außer Atem.
    »Kalt geworden«, sagt er dann.
    »Ja.«
    »Warst du auf dem Eis?«
    »Ja. Das Groote Meer ist schon zu.«
    »Ich hab deine Schafe verkauft.«
    »Das ging schnell.«
    »Ach, ein Hobbybauer. Hat hundertvierzig pro Stück gezahlt.«
    »So.«
    Er holt seine Brieftasche hervor, ein riesiges Ding, das mit einer Kette an seinem Gürtel befestigt ist. Dann leckt er Daumen und Zeigefinger an und zieht sechs Fünfziger aus einem der Fächer. Er nimmt dreißig Prozent, unabhängig von der Höhe des Erlöses. Diesmal rundet er

Weitere Kostenlose Bücher