Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
Küche, und seine Augen unter den dunklen Brauen sahen mich
unsicher an. Mutter nahm den Brief aus der Spüle und versuchte ihn glattzustreichen, bevor sie ihn dann doch in den Mülleimer warf.
Also wohnte ich zu Hause, fuhr mit dem Rad nach Amsterdam, besuchte meine Lehrveranstaltungen und hatte nebenher allerlei Jobs, um mein Studium bezahlen zu
können. Manchmal, wenn ich morgens mit verquollenen Augen am Küchentisch saß, weil ich am Vorabendspät heimgekommen war – nach dem Abladen von Ware für
ein großes Kaufhaus zum Beispiel –, erkundigte sich Mutter nach meinem Treiben in Amsterdam. Amsterdam, der Stadt, der man besser fernblieb. Im Grunde
wußte sie gar nicht, was sie mich fragen sollte, aber sie versuchte es wenigstens. Vater hatte mich bis zu jenem 19. April vielleicht dreimal gefragt, wie viele Wörter ich in der Zwischenzeit wieder dazugelernt hätte (ohne auf Antwort zu warten), bevor er sein Gespräch mit Henk fortsetzte. Ein Gespräch über Kühe, die trockenstanden; über Jungrinder, die auf eine andere Weide gebracht werden sollten; über die Bauern in der Nachbarschaft. Über Dinge, die wirklich von Bedeutung waren. Für ihn und Henk.
Henk war der Bauer, Henk war Vaters Junge. Was er mit mir anfangen sollte oder was ich mit mir selbst anfangen sollte, darüber machte Vater sich weiter keine Gedanken.
Und Henk hatte Riet. Bis er ihr im Dezember 1965 in einer Kneipe in Monnickendam begegnet war, hatte Henk mir gehört, und ich Henk. Ich war auch in dieser Kneipe gewesen, und das hatte Riet ziemlich durcheinandergebracht. Es war Heiligabend, der Ausgehabend für die, die nicht zur Mitternachtsmesse gingen. Henk war mit ihr ins Gespräch gekommen, und im Laufe des Abends rückten die beiden immer weiter von der Gruppe weg, mit der dieser Abend begonnen hatte, der Gruppe von Bauernsöhnen, bei denen ich hängenblieb. Henk stand so, daß er mir den Rücken zuwandte, und ich konnte an seinem Hinterkopf sehen, daß er lebhaft sprach, während Riet immer wieder über seine Schulter zu mir hinschaute, manchmal mit einem leicht verstörten Blick. Ich hatte noch nie ein so hübsches Mädchen gesehen. Er sprach, ich schwieg, es war ein typischerHenk-und-Helmer-Abend: Henk und Helmer, nicht umgekehrt. Wir waren achtzehn und sahen uns noch immer ähnlich wie zwei Lämmer, wenn auch von zwei verschiedenen Mutterschafen, und nach diesem Heiligabend blieb ich allein zurück.
Anfang April hatte Riet ihre Fahrprüfung bestanden. Am 19. April wollte sie Henk zeigen, daß sie den Führerschein nicht für ihr reizendes Lächeln bekommen hatte, wie er glaubte – wie so viele Männer. Ich hatte am Nachmittag eine Vorlesung zur historischen Sprachwissenschaft gehabt und fuhr mit dem Rad nach Hause. Der Wind wehte von Südwesten, so daß ich ihn im Rükken hatte, ich fuhr mit offener Jacke.
Mutter saß in der Küche, allein. »Henk ist tot«, sagte sie.
Am Moordenaarsbraak, zwischen Edam und Warder, war Riet von der schmalen Deichstraße abgekommen, weil ein
entgegenkommendes Auto nicht an den Rand gefahren war. Der Wagen war den Deich hinuntergerutscht, hatte sich Überschlagen und war dann –
richtig mit den Rädern nach unten – im IJsselmeer gelandet. Henk hatte das Bewußtsein verloren, die Beifahrertür war verzogen und das Dach
auf seiner Seite etwas eingedrückt. Ausgerechnet hier war das Wasser tiefer als an anderen Stellen, vielleicht eine Folge des Deichbruchs,
bei dem an der Landseite des Deichs der Moordenaarsbraak entstanden war. Obwohl die andere Autofahrerin, die nicht an den Rand gefahren war,
ihr zu Hilfe kam, hatte Riet ihn nicht befreien können. Der Wagen, der noch bis zum nächsten Tag im IJsselmeer liegenblieb, war Vaters
dunkelblauer Simca.Jeden der Tage, an denen Henk im Wohnzimmer aufgebahrt war, verbrachte Riet bei uns. Frühmorgens kam sie,
spätabends fuhr sie nach Hause. Weil Henk ertrunken war, mußte der Sarg bald geschlossen werden. In der Nacht vom 19. auf den 20. April war
es deutlich kälter geworden, und die beiden Schiebefenster standen einen Spalt offen. Mutter und Riet saßen den ganzen Tag in der Küche, ohne
etwas zu tun. Hin und wieder kam jemand zu Besuch, hauptsächlich die Großeltern, von denen 1967 noch drei lebten. Vater und ich gingen uns
aus dem Weg und sorgten dafür, daß wir möglichst selten ins Haus mußten. Im Haus zu sein war unerträglich. Die beiden Frauen saßen einfach
nur da, meistens schweigend, Henk lag im kalten
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