Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
nimmt ein Glas vom Nachttisch und trinkt einen Schluck Wasser. Erst als er das Glas mit den Lippen berührt, hört seine Hand auf zu schlottern. Seit ich mich auf den Stuhlgesetzt habe, schaut er mich an. »Wenn wir nur erst Frühling hätten«, sagt er.
»Nicht zuviel trinken, wenn du trinkst, mußt du pinkeln.«
»Ich weiß ja auch, daß ich am Ende bin.«
»Aber?«
»Ich will noch einen Frühling.«
Schräg unter uns lachen Teun und Ronald.
»Warum bin ich dir so zuwider?« fragt er. »Warum läßt du nicht den Arzt kommen? Warum sagst du Ada, ich wäre senil?«
Jetzt bietet das Versteck auch keinen Schutz mehr. Das träge Ticken der Standuhr, das mir eben noch ein Gefühl von Zeitlosigkeit gab, wird bedrohliches Wegpochen von Zeit. Ich starre die sechs Aquarellpilze an und frage mich, wer sie ins Haus gebracht hat und wann.
»Was hab ich getan, Helmer?«
Er fragt mich, was er getan hat, und nennt mich bei meinem Namen. Die Pilze verschwimmen, ich muß mich zusammenreißen. Jetzt ist von unten eine neue Stimme zu hören.
»Da ist Ada«, sagt Vater.
Ich schaue ihn an. Er hat immer noch das Glas in der Hand, die Hand ruht auf der Decke. Ich räuspere mich. »Auf einen mehr oder weniger kommt’s jetzt auch nicht mehr an«, sage ich dann.
»Ich will es wissen, Helmer.«
»Ein Fernseher!« ruft Ada so laut, daß es auch hier oben gut zu verstehen ist.
»Ein Fernseher?« fragt Vater.
»Ja, Henk will fernsehen, sonst langweilt er sich abends.«
»Du hast wohl viel für ihn übrig.«
»Och . . .«
»Ich will es wissen.«
»Dann sollst du es wissen«, sage ich. »Jetzt geh ich runter.«
»Für deinen Bruder hattest du auch viel übrig. Sehr viel.«
»Du auch«, antworte ich. »Für deinen Sohn.«
»Ja«, sagt er. »Ich auch.« Endlich stellt er das Glas auf den Nachttisch. Es klappert auf der Marmorplatte.
Henk ist allein in der Küche. Er steht am vorderen Fenster. Seine langen Arme hängen herunter.
»Wie gefällt’s dir hier, Henk?«
»Es geht.«
»Versorgst du gleich das Jungvieh?«
»Natürlich.«
»Wo sind denn alle hin?«
»Die Frau mit der Hasenscharte holt gerade einen Teppich.«
»Einen Teppich?«
»Ja, sie fand das Wohnzimmer kahl.«
»Sie heißt Ada.«
»Das weiß ich.«
»Dann gehn wir mal an die Arbeit.«
»Gut.«
In der Waschküche schlüpfen wir in unsere Overalls. Daran, wie sich der Overall um Henks Körper spannt, kann ich sehen, wie Vater geschrumpft ist. Im Schritt ist er zu eng, und die Ärmel sind zu kurz. Außerdem fehlt ein Knopf. In einer Brusttasche steckt etwas Rechtekkiges, das wird ein Zigarettenpäckchen sein. Ich sehe, daß der Waschkorb voll ist, heute abend muß ich eine Maschine Wäsche laufen lassen. Wir gehen zusammen in die Milchkammer. Dort bleibe ich zurück, Henk geht durch die Scheune zum Jungviehstall.Eine halbe Stunde später kommt Ada in den Stall, mit einem aufgerollten Teppich unterm Arm. Ich hocke zwischen den Kühen und bemerke sie erst, als sie mich anspricht. Sie wird rot. »Ich hab einen Teppich für dich«, sagt sie.
Ich verbinde die Schläuche des Melkzeugs mit der Melk- und Vakuumleitung und trete auf den Gang hinter den Kühen. »Leg ihn einfach in die Waschküche«, sage ich.
»Ja.« Sie bleibt stehen.
»Erwischt«, sage ich.
»Ja, erwischt.«
Mehr haben wir über die Sache nicht zu sagen; sie könnte sagen, daß sie es noch nie getan hat (was vermutlich nicht stimmt), ich könnte das gleiche sagen (und das wäre die Wahrheit). Oder wir könnten sagen, daß wir es nie wieder tun werden. Aber spielt es irgendeine Rolle, was wir sagen?
»Netter Junge.«
»Henk.«
»Teun und Ronald spielen schon ›Knecht‹.«
»Er hat ihnen sein Zimmer gezeigt.«
»Teun hat mir ein Poster für ihn mitgegeben. Es ist im Teppich.«
»Bring ihn einfach in die Waschküche.«
Ada geht. Kurz vor der Tür dreht sie sich um. »Helmer?«
»Ja?«
»Ich . . .«
»Ja?«
»Ach, nichts.« Sie geht aus dem Stall. Sie kommt nicht mehr zurück. Als ich wieder zwischen den Kühen stehe und durch ein Stallfenster auf die Straße schaue, sehe ich sie. Die Straße ist naß, Ada verschränkt beimGehen die Arme, wodurch ihre Bewegungen etwas Ruckartiges bekommen. Daß wir uns zugewinkt haben, macht es weniger schlimm, aber nicht ungeschehen. Die beiden Kuhköpfe neben mir heben sich gleichzeitig, scheppernd rutschen die Halsbügel über die Ketten. Weg hier, sagen sie.
Ich gehe zur Stalltür, die immer noch offensteht. Henk hantiert beim Misthaufen
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