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Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Titel: Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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Wade.
    Irgend etwas hinderte mich daran, in mein Zimmer zurückzugehen. Vielleicht, daß ich sie da hören könnte und sie deshalb auch vor mir sehen würde. Ich schlich auf Zehenspitzen zu der wie immer offenen Tür des kleinen Zimmers, ging hinein und streckte mich auf dem blauen Teppichboden aus, unter dem Kippfenster. Ich schlief ein und wachte sehr früh am Morgen auf.Erst dann legte ich mich wieder in mein Bett. Henk war noch nicht wieder da.

    August 1966, bald vier Jahrzehnte ist das her. Manchmal begreife ich nicht, wie ich so alt werden konnte. Wenn ich vor dem Spiegel stehe, sehe ich durch mein verwittertes Gesicht hindurch immer einen Jungen von achtzehn, neunzehn Jahren. Und immer noch frage ich mich, wen ich in jener Nacht eigentlich gesehen habe.
33
    »Wo kommst du her?« fragt Ronald.
    »Aus Brabant«, antwortet Henk.
    »Ah«, sagt Ronald und schaut mich an, »da kam die Frau auch her!«
    »Ja«, sage ich. »Die Frau war Henks Mutter.«
    »Arbeitest du hier?« fragt Teun.
    »Ja.«
    »Wo schläfst du denn?«
    »Oben.«
    »Ist die Mutter auch hier?«
    »Nein, Ronald«, sage ich. »Nur Henk ist hier.«
    »Dürfen wir da mal rein?« fragt Teun Henk.
    »Ja, sicher.«
    Teun und Ronald springen sofort auf. Ich kann mich nicht erinnern, daß sie schon einmal oben gewesen wären. Das ist die Gelegenheit für sie. Ronald läßt dafür sogar ein halbes Mandeltörtchen liegen.
    »Kommt«, sagt Henk. Er wirkt auf einmal sehr groß. Oder wirken Teun und Ronald kleiner? Sie verlassen die Küche. »Soo ’ne steile Treppe!« höre ich Ronald kurz danach rufen.
    Ich gehe zum Seitenfenster und versuche bei Ada ins Haus zu sehen. Ihr Küchenfenster ist eine Idee zu weit weg. Dann tue ich etwas, das ich noch nie getan habe. Ich gehe zum Schreibtisch und hole das Fernglas heraus. Von oben sind Henk, Teun und Ronald zu hören; zu verstehen sind sie nicht. Ich stelle mich wieder ans Fenster, diesmal mit dem Fernglas. Durchs Küchenfenster des gut fünfhundert Meter entfernten Hofs schaut Ada mit ihrem Fernglas zu mir herüber.
    Unser einziger Vorteil ist, daß wir beide etwas vor den Augen haben, uns also nicht direkt ansehen können. Sonst sind nur Nachteile zu erkennen. Ich weiß nicht, was ich tun soll, Ada weiß auch nicht, was sie tun soll. Wir sind durch zwei Gebilde aus Kunststoff und Linsen aneinander festgekettet. Wer zuerst das Fernglas absetzt, hat verloren und weiß, daß sein Rückzug vom anderen beobachtet wird. Jetzt hebt Ada die Hand und beginnt vorsichtig zu winken. Ich winke zurück, wenn auch widerwillig. »Laßt mich vor«, höre ich Henk oben an der Treppe sagen. Ich denke nicht mehr über Sieg, Niederlage oder Rückzug nach, sondern setze das Fernglas ab, gehe schnell zum Schreibtisch und stelle das Ding an seinen Platz zurück.
    »Ich durfte Henks Walkman aufsetzen!« ruft Ronald.
    »Und?« frage ich, während ich so tue, als ob ich am Schreibtisch mit irgend etwas beschäftigt wäre.
    »Henk braucht Poster für die Wand«, meint Teun.
    »Sie fanden es ein bißchen kahl da oben«, erklärt Henk.
    »Und wir gehn angeln«, sagt Ronald.
    »Im Frühjahr«, ergänzt Henk.
    »Ja«, sage ich, »jetzt stecken alle Fische tief im Dreck.«»Die Jungs waren gerade oben«, sagt Vater.
    »Ja, Henk hat ihnen sein Zimmer gezeigt.«
    »Bei mir sind sie nicht gewesen.«
    »Ronald hat Angst vor dir, hast du das an Silvester nicht gemerkt?«
    »Angst? Warum?«
    »Weil du ein alter Mann bist.«
    »Früher hatte er keine Angst vor mir.«
    »Früher konntest du auch noch laufen.« Ich benutze Vaters Schlafzimmer als Versteck. Henk, Teun und Ronald sitzen immer noch in der Küche. Sie trinken Tee und essen Mandeltörtchen. Ich bekam keinen Bissen oder Schluck mehr hinunter; die Unruhe in mir wurde zu groß. Ada mit ihrem Fernglas, Henk und die Jungen, das Telefongespräch mit Riet vor ein paar Tagen – ich mußte raus aus der Küche, und es ist noch zu früh fürs Melken. Hier sind nur Dinge von früher um mich herum: das träge Ticken der Uhr, die Fotos, das Elternbett. Vater selbst. Ich sitze auf dem Stuhl am Fenster. Auf ihrem Ast in der Esche putzt die Nebelkrähe ihr Gefieder. Sogar der Vogel ist inzwischen etwas Vertrautes.
    »Wie geht’s denn deinem Henk?«
    »Gut.«
    »Den bekomme ich hier auch nie zu sehen.«
    »Wundert dich das?«
    »Na . . .«
    »Demnächst will ich mit ihm mal den Zaun um die Eselkoppel erneuern.«
    Vater sitzt mit zwei Kissen im Rücken am Kopfteil des Betts. Seine Augen sind heute klar. Er

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