Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
den Wunsch, uns zuunterscheiden. Zusammen gingen wir zum Zahnarzt (allerdings hatte ich fast immer mehr Löcher als Henk), zusammen schwammen wir im IJsselmeer, zusammen kriegten wir eins hinter die Löffel, wenn wir würgend unsere Teller mit gekochter Endivie wegschieben wollten. An dem eiskalten Februartag, an dem Vater es fast gewagt hätte, an der Spitze des Damms vorbeizufahren, waren wir mühelos miteinander verschmolzen wie siamesische Zwillinge. Das geschah ganz von selbst. Wenn er das Wagnis eingegangen wäre und wenn dann das Eis trotz seiner Dicke nicht getragen hätte, wären wir wie ein Mann ertrunken.
Im Sommer gingen wir zur Bosman-Mühle. Dort scheuerten wir uns zusammen an den eisernen Stangen, und die Schafe sahen uns zu. Fettiges Schmieröl, sonnenwarme Haut, trockenes Gras und salziger Schweiß. Hohe Wolken und Lerchen, die wir nicht sehen konnten, auch wenn wir angestrengt in den Himmel starrten. Wir gehörten zusammen, wir waren zwei Jungen mit einem Körper.
Aber dann kam Riet. Als ich im Januar 1966 in sein Schlafzimmer ging und mich zu ihm ins Bett legen wollte, schickte er mich weg. »Hau ab«, sagte er. Ich fragte ihn, warum. »Idiot«, antwortete er. Ich verließ sein Zimmer und hörte ihn mißbilligend stöhnen. Zitternd ging ich zu meinem eigenen Bett zurück. Draußen fror es, das neue Jahr hatte gerade angefangen, und am nächsten Morgen war das Fenster von oben bis unten mit Eisblumen bedeckt. Jetzt waren wir Zwillinge mit zwei getrennten Körpern.
35
Der Knecht sah ungefähr so aus, wie sein Name sich anhörte: Jaap. Große Hände, breites Gesicht, kurze blonde Haare, kräftiger
Körper. Seine Nase war schief, und von einem Schneidezahn war eine Ecke abgebrochen. Für mich war er immer alt, er hatte bei Vater angefangen, als
Henk und ich etwa fünf waren; im Spätommer 1966 wird er um die dreißig gewesen sein. Also alt, damals. Sehr jung, heute.
Henk und Riet hatten es miteinander getrieben (und ich hatte zugesehen); über ein halbes Jahr war ich schon aus Henks Zimmer verbannt; ich war nicht Vaters Junge (jetzt erst recht nicht, schließlich gingen Henk und ich nun ganz verschiedene Wege, und ich würde demnächst in Amsterdam »Wörter lernen«); Mutter wirkte auch ziemlich ratlos (unser Bündnis gab es damals noch nicht, sie vermied es, mich anzuschauen). Und der August blieb warm, dunkelgelb-warm. Kurzehosenwetter, aber mein jetzt halber Leib war kalt. Ich wußte nicht, wohin ich mich verkriechen sollte.
Jaap war immer da, er gehörte zum Hof wie eine Kuh, ein Schaf, die Weideegge oder das Hühnerhaus. »Hallo, Jungs«, sagte er, wenn wir ihn trafen. Vom Schlittschuhlaufen abgesehen, waren wir praktisch immer zusammen, wenn wir ihm begegneten. Er hielt in seiner freundlichen Art Abstand, vielleicht, weil wir die Söhne des Bauern waren, vielleicht, weil er uns eigentlich nichts zu sagen hatte. Fast nie kam er zu uns ins Haus. Zum Kaffeetrinken und Essen ging er ins Knechtshaus. Er war allein gekommen, und er blieb allein. Am Anfang hatten ihn manchmal noch Verwandte besucht, später nicht mehr.In der Nacht, in der ich im neuen Zimmerchen auf dem Boden lag und nicht gleich einschlafen konnte, weil die Bewegung vor meinen Augen nicht aufhören wollte, fiel mir der Vorfall zwischen Vater und dem Knecht wieder ein. Erst da ging mir auf, daß Henk damals nicht mit im Stall gewesen war. Nur Vater, der Knecht und ich. Und auf einmal – während ich unter dem Kippfenster lag und hinter den Augenlidern immer noch das Schlüsselloch sah, als unangenehm schwarzen, weiblichen Fleck – wußte ich, daß der Knecht mich angesehen hatte, gerade weil nur ich hinter Vater stand.
Es war das erste Mal, daß ich zum Knechtshaus ging. Ich wußte nicht, was ich sagen würde, ich hatte mir keinen Grund für meinen Besuch ausgedacht. Ich mußte einfach hin. Es war ein Abend an einem normalen Wochentag.
Er öffnete die Haustür. »Hallo, Helmer«, sagte er einfach, als käme ich jeden Tag vorbei. Er hatte ein kurzärmeliges Hemd an, das oben nicht zugeknöpft war. Seine Arme waren braungebrannt. Er war schon seit über vier Monaten arbeitslos. Daß er sofort wußte, wer ich war, wunderte mich nicht. Es freute mich. Henk würde hier niemals an die Tür klopfen. Der Knecht ging durch die kleine Diele ins kleine Wohnzimmer, ich schloß die Haustür. Eins der Fenster war weit geöffnet, ein langes Stück Holz hielt es offen. Auf einem niedrigen Tisch mitten im Zimmer lag ein Stapel Bücher,
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