Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
saßen hinter uns. Natürlich gingen wir miteinander, das erwartete man von uns. Es war ein Verhältnis in wechselnder Zusammenstellung, und Henk und ich waren die Auswechselspieler. Die Mädchen waren sich längst nicht so ähnlich wie wir.
Henk war schneller als ich, ich reagierte immer zu spät. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, tut Henk immer schon etwas, während ich noch nicht soweit bin: Ob er dem Schuldirektor eine Frage beantwortet (diesem Mann im schmutziggelben Kittel, dessen Fingerspitzen braun verfärbt waren von filterlosen Camels); ob er von der Schulbank aufsteht; ob er mit seinem Roller auf die Straße einbiegt – immer tut er etwas, während ich noch »hm?« sage, um es ihm dann nachzutun. Ich war in Gedanken immer woanders. Ich dachte nach, er handelte. Die beiden Mädchen merkten es bald jedesmal, wenn wir getauscht hatten. Es machte ihnen nichts aus. Und uns auch nicht; wir hatten in der Klasse eine Rolle, die uns Halt gab.
Henk und ich trugen die gleichen Sachen, wurden beim Dorffriseur nacheinander abgefertigt – »Schönpraktisch«, sagte er jedesmal wieder zu Mutter oder zu uns – und hatten beide einen roten Roller. Aber auch da gab es Unterschiede. Wenn wir ein Hemd anhatten, hing bei Henk eigentlich immer ein Zipfel aus der Hose, oder der halbe Kragen stand hoch. Seine Frisur war wilder als meine (schon während des Haareschneidens hörte er auf zu schlucken; wir waren noch nicht draußen, da spuckte er schon in die Hand und fuhr sich damit durchs Haar, es war ihm egal, ob der Friseur es sah). Und immer hatte sein Roller etwa einen Meter Vorsprung.
Rückblickend – immer rückblickend – glaube ich, daß er genau wußte, was er wollte, während ich keinen blassen Schimmer hatte, was ich wollte und meinte oder nicht. Egal, worum es ging. Ich sehe noch die Flasche Birken-Haarwasser neben dem Frisierspiegel stehen, eine Flasche mit Schlauch und Gummiball zum Zerstäuben. Henk fand das Zeug gräßlich, ich war mir nicht sicher. Dieser Duft, der hatte doch auch was.
Erst als wir acht waren, zog ich in mein eigenes Schlafzimmer (das, in dem Vater jetzt seine Tage verbringt). Drei Nächte hielt ich es allein aus. In der vierten Nacht schlich ich in mein richtiges Schlafzimmer und kroch bei Henk unter die Decke. »Was machst du?« flüsterte er, um etwas zu sagen. Ich antwortete nicht. Er lag auf der Seite, und ich rutschte zu ihm hin und schob meine Füße zwischen seine. Es kann sein, daß die Erinnerung, die ich nicht haben kann – Mutters Gesicht von unten, hinter einer sanften, weichen Wölbung, ihr Kinn und vor allem ihre leicht vorquellenden Augen, nicht auf mich gerichtet, sondern auf einen Punkt irgendwo in der Ferne, im Nichts, hinter den Weiden, vielleicht auf dem Deich, Sommer, meine Füße spüren andere Füße –,auf diesen Abend zurückgeht, obwohl wir schon seit mehr als sieben Jahren nicht mehr die Brust bekamen und die Fettpölsterchen längst von unseren Füßen verschwunden waren.
Er kam nie in mein Schlafzimmer. Mein Schlafzimmer war ein einsames Zimmer, ein verlassenes Zimmer, ich hätte schon viel früher unten schlafen sollen. Vater kennt die Einsamkeit dieses Zimmers gar nicht. Am Ende der Grundschulzeit, als die beiden Mädchen weggezogen waren und wir mit niemandem mehr zu gehen brauchten, schlich ich nicht mehr jede Nacht zu Henk ins Zimmer. Nur noch einmal, vielleicht zweimal pro Woche.
Wenn die Fensterscheiben unter Eisblumen verschwanden, lagen wir in unseren Schlafanzügen unter einer dicken Schicht Wolldecken. Wenn es warm war, lagen wir nackt unter einem Laken. Unsere Körper schmiegten sich aneinander, der eine paßte sich dem anderen an. Zusammen fuhren wir mit dem Rad nach Monnickendam, er zur Landwirtschaftsschule, ich zum Gymnasium. Den Tag über waren wir getrennt, aber am späten Nachmittag trafen wir aus verschiedenen Richtungen wieder zusammen und legten dann gleichzeitig die Unterarme auf die Lenker, um Seite an Seite Regen und Wind zu trotzen. Zusammen hatten wir Geburtstag, zusammen hatten wir Freunde, zusammen standen wir unter der Dusche, noch mit vierzehn. Bis Vater uns eines Samstagabends trennte. »Erst der eine, dann der andere«, sagte er. »Na ja«, sagte Mutter, als wir uns später bei ihr beklagten, »ihr werdet schließlich schon richtige Männer.« Na und? dachten wir, sagten es aber nicht. Unsere Großeltern konnten an unseren Stimmen nicht hören, wer wer war. Wir trugen immer noch die gleichen Sachen, wir hatten nicht
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