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Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Titel: Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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an den Hosenbeinen meines Overalls ab. Das Wasser kann kommen.
    »Hier sind wir oft gewesen«, sage ich. »Im Sommer.«
    »Du und Henk.«
    »Ja.«
    »Jetzt wieder«, sagt er. »Aber es ist noch nicht Sommer.«
    »Nein«, antworte ich. »Es ist noch nicht Sommer.« Die Gänse fliegen auf, die eine etwas höher als die andere, wie immer bei Gänsen. »Deine Mutter war auch hier, kurz nach Henks Tod. Mit meiner Mutter.«
    Das interessiert ihn nicht. »Was habt ihr hier gemacht?«
    »Rumgehangen.«Rumgehangen. Gestanden, gesessen, gelegen. Zu den Gelben Teichrosen im Kanal hingestarrt, zu den Wolken, die langsam – immer so unglaublich langsam – vorüberzogen. Auf das anschwellende Wasser im Kanal geschaut. Wenn wir die Augen zumachten und auf das gut geölte Quietschen der Mühlenachse horchten, auf den Wind im Gestänge, den Gesang von Lerchen, stand die Zeit still. Alles mögliche huschte hinter unseren Augenlidern hin und her, und es war nie dunkel. Orangefarben. Wenn Sommer war und wir hier in einem anderen Land waren – fast wie Amerika –, gab es sonst nichts. Es gab uns; und stärker als der Geruch von trokkenen Ackerdisteln, Schafkot und warmem Wasser war unser eigener Geruch. Ein süßer, manchmal kalkiger Geruch von nackten Knien, nackten Bäuchen. Das Gras kitzelte uns am Hintern. Wenn einer den anderen berührte, berührte er sich selbst. Wenn man den Herzschlag eines anderen spürt und glaubt, es wäre das eigene Herz, kann man sich näher nicht mehr kommen. Es ist ein Verschmelzen, fast wie bei dem Schaf und mir kurz vor dem Ertrinken.

    »Helmer?«
    »Ja?«
    »Wie ist das, wenn man einen Zwillingsbruder hat?«
    »Das ist das Schönste, was es gibt, Henk.«
    »Fühlst du dich jetzt halb?«
    Ich will etwas sagen, aber ich kann nicht. Ich muß mich sogar an einer der Stangen festhalten, um nicht umzufallen. Mich hat man immer vergessen, ich war der Bruder, Vater und Mutter waren wichtiger, Riet konnte – so kurz ihre Zeit mit Henk auch gewesen war – ihre Witwenschaft für sich reklamieren; und jetzt steht mir hier Riets Sohn gegenüber und fragt mich, obich mich halb fühle. Henk packt mich bei den Schultern, ich schüttle seine Hände ab.
    »Weswegen weinst du?« fragt er.
    »Wegen allem«, sage ich.
    Er schaut mich an.
    Ich lasse ihn schauen.

    Wir essen nicht richtig zu Abend. Henk hat eine Flasche Wein aufgemacht, Brot und Käse stehen auf dem Tisch, Butter und eine Packung Joghurt, dazwischen liegt eine aufgerissene Tüte Chips. »Sie tut gerade so, als ob du die Krähe auf mich gehetzt hättest«, sagt Henk. Er hat den Brief vor sich, den seine Mutter mir geschrieben hat. »Und hier, ›so etwas wie Verbundenheit‹ und ›Es gab etwas, worauf wir aufbauen konnten‹. Da siehst du, daß sie dich heiraten wollte. Dann wärst du mein Vater gewesen.«
    »Natürlich nicht«, sage ich. »Wenn ich dein Vater wäre, wärst du nicht der, der du jetzt bist.«
    »Hm?«
    »Du verstehst schon, was ich meine.«
    »Nein, versteh ich nicht. Soll ich ein paar Eier braten?«
    »Nein, danke. Warum liest du den Brief? Es gehört sich nicht, anderer Leute Post zu lesen.« Ich bin leicht angetrunken und schaue immer wieder zum Seitenfenster hinaus. Hoffentlich kann Ada durchs Fernglas ganz genau sehen, was hier los ist. Alkohol, schlechtes Essen, nervöse Unruhe.
    »Ich hätte dein Onkel sein können«, sage ich. »Nein, das auch nicht, wenn Henk dein Vater gewesen wäre, wärst du ja auch nicht der, der du jetzt bist.«
    Er sieht mich dösig an. »Onkel«, sagt er langsam.
    Ich überlege, wo die Pinzette liegt. ImVerbandkasten, im Wäscheschrank, unter einem der Handtuchstapel. »Henk«, sage ich. »Hol mal den Verbandkasten aus dem Schrank. Und mach das Licht an.« Er steht auf und tut, worum ich ihn bitte. Bleib jetzt dran, Ada, denke ich, als ich die Pinzette aus dem Verbandkasten krame. Ich rücke meinen Stuhl vom Tisch weg und winke Henk zu mir.
    »Was hast du vor?« fragt er.
    »Die Fäden ziehen.«
    »Echt? Muß das nicht im Krankenhaus gemacht werden?«
    »Ach was. Knie dich mal hin.«
    Er kniet sich vor mir hin, und ich drücke mit einer Hand seinen Schädel an meine Brust.
    »Aber vorsichtig«, sagt er.
    »Natürlich«, versichere ich. Es sind vier Fäden. Zwei kann ich ohne nennenswerten Widerstand ziehen. Der dritte sitzt etwas fester.
    »Au«, sagt Henk.
    »Ist schon passiert.« Der vierte Faden löst sich wieder leicht.
    Bevor er aufsteht, befühlt er mit einem Finger die Wunde; sie ist fast schon

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