Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
dauert einen Moment, bevor er wieder etwas sagt. »All diese Tiere.«
»Was ist damit?«
»Die es auf meinen Kopf abgesehen haben.«
»Ja?«
»Da muß ich mal was unternehmen.«
»Was willst du da unternehmen?« Ich stehe schon halb im Wohnzimmer.
»Weiß ich nicht. Irgendwas.«
»Deinen Kopf schützen.«
»Keine Ahnung.«
»Der Zwergesel ist längst tot, und die Nebelkrähe ist weggeflogen.«
»Ja. Trotzdem.«
»Ich geh jetzt«, sage ich. »Versorgst du das Jungvieh?«
»Ja«, antwortet er lustlos. »Nachher.«
Ende März, und die Sonne ist schon aufgegangen, als ich mit Melken anfange. Als ich zehn Kühe gemolken habe, gehe ich zur Stalltür. Irgendwo sitzt eine Amsel, der Misthaufen dampft, die gekappten Weiden könnten morgen austreiben. Im Jungviehstall herrscht Unruhe, aber davon abgesehen ist es so still, daß ich die Esel auf ihrer Koppel traben hören kann.
Seit dreieinhalb Jahrzehnten habe ich kein Gedicht mehr gelesen – außer Todesanzeigenlyrik in der Zeitung –, und jetzt denke ich an ein Gedicht. Ich habe nicht viel gelernt in meinen sieben Monaten Amsterdam, aber zumindest weiß ich noch, daß ein Gedicht fast immer nach etwas kommt. Ein Gedicht ist (ich sehe nicht mehr den Misthaufen vor mir, sondern den lebhaften Dozenten für neuere Literaturwissenschaft, es ist doch kaum zu glauben: sein wirres Lockenhaar, seine Hornbrille, er sah selbst wie ein Dichter aus) – ein Gedicht ist »eingedickte Wirklichkeit«, ein »auf den Kern reduzierter Vorfall«, eine »Sublimierung«. Ein Gedicht handelt nie, wovon es zu handeln scheint (wie der lebhafte Dozent für neuere Literaturwissenschaftbegeistert sagte). Wenn ich rauchen würde, könnte ich mich jetzt an die Stallwand lehnen und, in solche Gedanken versunken – beim Rauchen kann man gut in Gedanken versinken, stelle ich mir vor –, zur stillstehenden Bosman-Mühle hinüberstarren. Ich gehe in den Stall zurück, stecke das Anschlußstück auf die Melk- und Vakuumleitung und hänge der elften Kuh das Melkzeug an.
Nach dem Melken lasse ich ein paar Eimer mit Wasser vollaufen. Ich leere sie in das Faß, das auf der Eselkoppel am Zaun steht, und werfe eine Handvoll Wintermöhren ins Gras. Die Esel laufen nicht gleich zum Zaun, sondern kommen Flanke an Flanke gemächlich auf mich zu. Diese beiden Viecher gehören mir, niemand anderem als mir, ich habe sie gekauft. Alles andere hier gehört nicht wirklich mir; die Kühe, die Schafe, sogar die Lakenvelder Hühner sind geerbt. Der alte Opel Kadett, der Misthaufen, die Kopfweiden: Ich fahre damit, ich lade meinen Mist darauf ab, ich kappe sie, aber nichts davon gehört mir. Ich bin nur Pächter, und ich mache die Arbeit, die ein anderer hätte tun sollen.
Die Sonne scheint, und es ist fast windstill. Frühling. Auf der halben Seitenmauer des ehemaligen Knechtshauses glänzt etwas; vielleicht eine Schneckenspur. Ich glaube, es ist nicht gut, daß ich jetzt ein Gedicht lesen möchte. Es hängt mit etwas zusammen, das Henk gestern gesagt hat. Die Möhren verschwinden knackend in den Eselmäulern. Ich kraule die beiden hinter den Ohren. Erst als sie selbst genug haben und gleichzeitig die Köpfe schütteln, höre ich wieder auf, ich bin nicht bei der Sache. Viel zu spät versorge ich dann das Jungvieh. Henk ist nicht aufgestanden.
46
Vater wird allmählich immer grauer. Seit einer Woche ißt er nichts mehr und trinkt nur Wasser und Orangensaft, und von dem Saft jeden Tag weniger, weil der »so sauer« ist. Nur hin und wieder ist noch ein kleines bißchen dunkelgelber Urin in der Harnflasche. In den letzten sieben Tagen habe ich ihn nicht ein einziges Mal nach unten getragen. Aber er bekommt doch noch, was er sich gewünscht hat: einen letzten Frühling. Seit ein paar Tagen ist es sonnig und mild, und die Knospen der Esche schwellen, sie sieht jetzt aus wie ein Knochenbaum mit lauter spitzen Gelenken. Vaters Stimme wird schwächer, aber ich weiß nicht, ob das daran liegt, daß er nichts mehr ißt. Wie lange kann so etwas dauern? Wenn ein Körper zäh ist, kommt er vermutlich wochenlang ohne Nahrung aus. Ich gehe öfter als sonst in sein Zimmer, und manchmal bekomme ich einen Schreck, weil sein tiefer Schlaf so todesähnlich wirkt. Er fragt oft nach Henk. Er redet mit ihm. Gestern konnte ich der Versuchung nicht widerstehen und bin Henk nachgeschlichen.
»Wie geht’s mit dem Sterben, Herr van Wonderen?« fragte Henk fröhlich.
»Sehr gut«, antwortete Vater, genauso munter, aber leise.
Dann
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