Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Titel: Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
Vom Netzwerk:
Schaf, das im Wasser gelegen hat? Ich versuche mich zu erinnern, was ich gedacht oder gesehen habe, was mit mir passiert ist in den schwarzen Minuten zwischen Ertrinken und Zu-mir-Kommen. Oder waren es nicht mal Minuten? Hat Henk das auch so erlebt? Oder war er schon bewußtlos, bevor das Auto im Wasser landete? Ich merke, daß ich die Hände in Magenhöhe gefaltet habe. Als ob ich hier aufgebahrt wäre. Ich würde mich gern auf die rechte Seite legen, aber da liegt Henk, also drehe ich mich wieder auf die linke. Draußen ist es vollkommen still.Wie bringt er es fertig? Vater zu fragen, wie es mit dem Sterben geht, als würde er ihn fragen, ob er noch einen Löffel Soße über die Kartoffeln haben möchte? Und wie bringt Vater es fertig, »sehr gut« zu antworten, als würde er zufrieden sehen, wie die Soße auf den Kartoffeln zerläuft?
48
    Die Magnolie blüht. Ein seltsamer Kontrast zum Rest des Gartens. Die großen Blüten sind nicht weiß und nicht rot, sie sind rosa mit einem schmalen weißen Rand. Wenn das Knechtshaus noch stünde, würden die Spitzen der oberen Zweige bis an die Dachgaube reichen. Wir haben Anfang April, und der Frühling ist schon wieder vorbei. Die Sonne scheint, aber es ist kalt, und nachts sinkt die Temperatur unter den Gefrierpunkt. Trotzdem blüht die Magnolie. Einen Baum bringt so schnell nichts um, und der Frost scheint auch den Blüten nicht geschadet zu haben. Einmal vor sehr vielen Jahren, vielleicht in der Zeit, als der Knecht noch hier wohnte, sind in einer Nacht sämtliche Blüten erfroren. Zwei Tage nach dem Nachtfrost waren sie braun, wie verbrannt, und die Blütenblätter, die normalerweise nach und nach abfallen, fielen einfach nicht. Die Luft ist unglaublich klar, von Vaters Schlafzimmerfenster aus ist der Leuchtturm von Marken zu sehen. Der Wind kommt von Norden oder Nordosten. Aus Dänemark.

    »Als deine Mutter starb«, sagt Vater, »warst nur du noch übrig.« Er liegt auf der Seite, weil ich gesagt habe, daß er nicht immer nur auf dem Rücken liegen darf. DasBlatt mit dem Gedicht liegt neben dem Bett, halb unter dem Nachttisch, mit der unbeschriebenen Seite nach oben. »Und jetzt sind alle weg. Ich hätte gerne noch mal mit dem Viehhändler gesprochen, auch wenn er nie viel gesagt hat.«
    »Der ist bestimmt schon in Neuseeland«, sage ich, mehr zu mir selbst als zu Vater.
    »Es ist so eine Schinderei, das Leben. Nur weil Ada mit dem Fernglas nach dir geschaut hat, und du nach Ada, ist sie jetzt schon seit Wochen nicht mehr hier gewesen. Und warum läßt Teun sich nicht mehr blikken? Teun ist so ein netter Junge. Worauf bist du eigentlich aus, Helmer?«
    »Ich?«
    »Ja, du.«
    Ich schaue aus dem Fenster. »Die Esche hat Knospen«, sage ich.
    »Wie viele Lämmer hast du schon?« Was auch geschieht, er muß unbedingt auf dem laufenden bleiben.
    »Vierzehn.«
    »Auf?«
    »Zehn.«
    Er seufzt. »Niemand konnte Henk und dich auseinanderhalten, der Friseur nicht, euer Klassenlehrer nicht, eure Großeltern nicht. Sogar ich mußte manchmal ganz genau hinsehen. Nur deine Mutter und Jaap wußten immer, wer wer war. Jaap hat immer gewußt, daß du Helmer warst und Henk Henk. Wie konnte er das wissen? Was hat er gesehen, das ich oder andere nicht gesehen haben? Ich hab ihm nie über den Weg getraut.« Er liegt am Rand des Betts. Seine Nägel sind lange nicht geschnitten worden, eine klauenartige Hand hängt neben dem Bett herunter. Er bewegt die Finger, anscheinend will er nach dem Gedicht greifen. Ich wunderemich, daß aus einem kraftlosen Menschen wie ihm noch so viele Worte kommen. Weil das Bett auf Klötzen steht, können seine suchenden Fingerspitzen den Boden nicht erreichen. Jetzt rollt er auf den Rücken, der Arm folgt der Bewegung des Rumpfs und fällt wie ein vertrockneter Ast neben ihm auf die Decke. Er keucht leise. »Ich weiß ja nicht, was damals alles vorgefallen ist im Knechtshaus, aber ich war froh, als er wegzog«, sagt er; es ist fast nicht zu verstehen.
    »Was?«
    »Küssen«, seufzt er. »Männer küssen sich nicht.«
    Am Ticken der Standuhr war mir bis zu diesem Augenblick nichts aufgefallen. Sie tickt unregelmäßig, langsam. Es ist lange her, daß ich die Gewichte hochgezogen habe. »Er . . .« Aber ich lasse es, ich lasse ihn. Ich stehe auf, gehe zur Uhr und öffne die Glastür. Nach dem Hochziehen der Gewichte klingt das Ticken wieder wie immer.
    »Du hast nie was gesagt«, fährt er fort. »Du hast nie gesagt, daß du nicht wolltest.«
    »Du hattest kaum

Weitere Kostenlose Bücher