Oben ohne
sein.
RIESENFORTSCHRITTE
August 2005
Heute geht es mir nach einem Einzelgespräch richtig schlecht. Es kommen so viele Erinnerungen an meine Mutter hoch. Ich erinnere mich, dass wir meinen Vater oft von der Arbeit abgeholt haben. Sei es, dass wir zu Fuß zum Bahnhof sind – oder auch mit dem Auto. Einmal hat meine Mutter prompt einen kleinen Auffahrunfall verursacht. Sie war sowieso keine begnadete Autofahrerin. Eine besondere Spezialität von ihr war das Fahren bis zum letzten Tropfen Benzin. Sie hat das immer bis zum Äußersten ausgereizt. Klar, dass das auch mal schiefgeht. Damals blieben wir dann einfach stehen. Aber glücklicherweise war eine Tankstelle schnell zu Fuß erreichbar.
Eines Nachmittags kam sie viel zu spät von der Schule heim. Wir Kinder warteten sehnlichst auf das Mittagessen. Ich hatte kein gutes Gefühl. Da war bestimmt etwas passiert. Tatsächlich hatte sie damals einen Unfall gehabt, allerdings war der andere schuld, der ihr beim Ausparken voll in die Seite gefahren ist. Kurz danach wurde ihr der erste Knoten aus der Brust und den Lymphknoten entfernt. Später habe ich irgendjemanden sagen hören, dass der Unfall den Krankheitsverlauf beschleunigt habe, weil der Sicherheitsgurt bei meiner Mutter genau an der Stelle des unentdeckten Tumors eingeschnitten hätte. Ich habe keine Ahnung, ob das stimmt. Das habe ich als Jugendliche alles immer nur so aufgeschnappt.
Scheiße, sie fehlt einfach. Ich habe das Gefühl, dass mich die Trauer zerreißen wird, dass ich das alles nicht aushalte.
Ich weiß, dass Corinna in den Ferien quasi immer erreichbar ist. Wir haben oft telefoniert in den vergangenen Wochen. Allerdings ging es mir nie so dreckig wie gerade. Bei ihr kann ich aber sicher auch in diesem Zustand anrufen. Ich möchte nicht schon wieder Tino damit konfrontieren. Er hört mir zwar immer geduldig zu, aber die Situation ist auch für ihn alles andere als leicht. Schließlich schnappe ich mir den Hörer und rufe bei ihr an.
»Was ist los, Evelyn?«
Ich kann minutenlang nichts anderes als schluchzen. Dann legt sich mein Weinkrampf etwas, und ich versuche, ihr von meiner unstillbaren Trauer um meine gestorbene Mutter zu berichten.
»Es tut so weh«, sage ich, »ich weiß gar nicht, wo das all die Jahre gewesen ist.« Ich merke, dass es mir guttut, mit ihr zu sprechen.
Als ich mich schon wieder ziemlich gefangen habe, sagt Corinna etwas zögerlich: »Ich will dir da ja nicht reinreden – aber irgendwie glaube ich nicht, dass das sinnvoll ist, was du da gerade machst.«
Ich bin baff. Corinna scheint mein Schweigen als Zustimmung zu werten. Jedenfalls fährt sie mit festerer Stimme fort: »In der Klinik machen sie doch alles noch viel schlimmer. Das kann doch nicht gut sein!«
Früher hätte ich jetzt wahrscheinlich weiterhin meinen Mund gehalten. Aber jetzt sage ich plötzlich: »Was habe ich denn für eine Alternative? Soll ich etwa mein ganzes Leben Schlafstörungen haben?«
»Das meine ich nicht. Aber so ist es doch noch viel schlechter.«
»Klar geht es mir im Moment nicht gut«, ich muss schlucken, weil ich merke, dass wieder Tränen kommen, »aber das ist doch auch okay so. Ich kann einerseits richtig weinen, ich kann aber auch wieder richtig lachen. Das habe ich ewig nicht mehr gemacht. Ich schlafe besser, ich kann auch mal Raum und Zeit vergessen. Das sind Riesenfortschritte, auch wenn ich gerade einfach traurig war.«
»Es geht dir aber oft nicht gut. Wie soll das weitergehen?«
»Wenn du mir die Wahl geben würdest – zurück zu dem Zustand vorher oder den jetzigen Zustand –, würde ich nie mehr anders entscheiden. Wenn es mir hier schlecht geht, weiß ich wenigstens, warum. Die Leere ist gefüllt.«
Corinna ist nicht überzeugt: »Das musst du wissen.«
Nach einer kurzen Pause erkundige ich mich noch, wie es ihr geht, aber sie antwortet ausweichend. Schließlich beenden wir das Gespräch.
Diese Bemerkung von Corinna beschäftigt mich anschließend lange – in der Klinik machen sie alles doch viel schlimmer. Offensichtlich ist es schwer zu verstehen, dass die Trauer um meine Mutter nie stattgefunden hat – und dass ich genau das jetzt nachholen muss. Ich habe auch nicht das Gefühl, dabei eine Wahl zu haben. Über anderthalb Jahrzehnte habe ich das alles verdrängt, weil es nicht sein durfte, kein Raum dafür vorhanden war, und weil ich als Jugendliche auch einfach nicht wusste, wie man mit diesen Gefühlen leben kann. Aber Corinna kann mich auf dem Weg, den ich
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