Oben ohne
auf die Straße.
Der Händler erwartet mich, wir klären einige Fragen, für meinen alten VW bekomme ich noch zehn symbolische Euro. Das ist nicht schön, aber andererseits habe ich so ein Problem weniger. Der Händler wirft nur einen etwas mitleidigen Blick auf den Wagen, der noch immer die groben Winterreifen aufgezogen hat, obwohl es schon längst Sommer ist. Das Umladen geht schnell, mein Mountainbike und meine Reisetasche kommen in den Peugeot. Dann bin ich zurück auf der Straße, tanken, und weiter geht’s Richtung Oberbayern. Eine meiner ersten Taten im Auto: eine CD einlegen und ganz laut aufdrehen. Autofahren und Musikhören sind für mich zwei untrennbare Dinge. Manche Augenblicke sind unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingegraben. Als ich nach meiner Ausbildung zum Studieren aus meiner Heimatstadt wegzog, fuhr ich einen riesigen Umzugswagen, während mein Bruder und ein Freund in seinem Auto nachkamen. Nachdem ich die Stadtgrenze hinter mir hatte, schob ich eine Kassette ins Autoradio. Sheryl Crow sang wenig später »Leaving Las Vegas«, und mich durchströmte ein intensives Gefühl, das irgendwo zwischen Glück und Freiheit lag.
Jetzt war es eine CD von Gretchen Wilson, die ich auf der Fahrt rauf und runter hörte. Countryrock aus den USA, nicht sonderlich subtile, aber unglaublich kraftvolle Musik. Und außerdem hat diese Frau eine wahnsinnig gute Stimme.
So langsam kommt mir zu Bewusstsein, was Evelyn vorhin gesagt hat: Oma ist positiv. Das ist durchaus auch wörtlich zu verstehen, zumindest für mein Empfinden. Das heißt schließlich, dass sie definitiv entlastet werden kann durch einen Test. Also ist ab jetzt alles möglich. Und ich glaube fest an die Fifty-Fitfty-Chance, die wir haben. Ich merke, dass Evelyn da anders denkt. Sie hat das Gefühl, dass sie die Mutation ebenfalls hat. Sie würde es nie zugeben, dass sie so denkt. Aber ich merke es ihr an. Ich schüttele unwillkürlich den Kopf, während ich auf der Autobahn Richtung Albtrauf fahre. Woher soll sie das denn wissen? Gene kann man nicht fühlen, da bin ich mir hundertprozentig sicher. Natürlich wünsche ich mir, dass uns das jetzt erspart bleibt. Irgendwie wäre das doch auch gerecht, oder? Nach allem, was Evelyn durch den Tod ihrer Mutter schon durchmachen musste? Aber an eine Art höhere Gerechtigkeit will ich auch nicht wirklich glauben. Also bleiben einfach die nackten Zahlen: fünfzig Prozent. Das ist doch eine ganze Menge, mache ich mir Mut.
Einige Stunden später ruft Evelyn nochmal auf dem Handy an. Wo ich bleibe, will sie wissen. Ich bin auf den letzten Kilometern Autobahn, die Abfahrt Bad Reichenhall ist schon in Sichtweite. Eine gute halbe Stunde später biege ich in die Klinikeinfahrt. Evelyn kommt mir schon entgegen, und wirft einen Blick auf das neue Auto. Sie steigt ein, und wir fahren zusammen in die Tiefgarage.
»Du hast eine neue Sonnenbrille«, sagt sie.
»Meine alte finde ich nicht mehr.«
Na ja, so richtig gesucht habe ich danach auch nicht. Man kann schon sagen, dass ich einen kleinen Sonnenbrillentick habe.
Als wir in Evelyns Zimmer sind, fängt sie wieder an zu weinen. Sie wirkt wahnsinnig erschöpft, und ich bin auch aufgrund der langen Fahrt entsprechend müde. Nur mühsam erklärt sie mir in den nächsten Stunden, was sie gerade so fertigmacht. Es sind vor allem zwei Dinge: Trauer um ihre Mutter, die keine Chance hatte, weil sie diese Diagnose nie bekam. Angst um Oma, die ja seit einigen Jahren wieder Brustkrebs hat.
»Ich habe mich immer noch an dieser Unsicherheit festgehalten«, sagt sie.
Da ticke ich definitiv anders, das halte ich für unlogisch. Aber vielleicht auch nur, weil es nicht mein Körper ist, um den es hier geht. Ich bin jedenfalls immer noch froh und sage das auch.
Später hat sie sich etwas beruhigt, und wir drehen noch eine Runde zu Fuß. Wir gehen hinter der Klinik über die Felder, in der Ferne ist die Schlafende Hexe zu sehen, die Abendsonne taucht die Berge in ein rötliches Licht.
DER MOMENT, AUF DEN ICH LANGE
GEWARTET HABE
September 2005
»Bis gleich.« Tino gibt mir einen Kuss und späht dann vorsichtig aus dem Zimmer. Die Luft scheint rein zu sein, er dreht sich kurz um und winkt knapp, dann ist er weg. Es ist Montagmorgen, Tino versucht mal wieder, unauffällig die Station zu verlassen. Das Wochenende war trotz der Differenzen am Freitag noch sehr harmonisch und schön geworden. Ich hatte mich am Samstagmorgen auch wieder etwas gefangen. Es waren so viele
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