Oben ohne
hier gehe, nicht unterstützen. Obwohl ich ihr doch auch schon oft am Telefon erzählt habe, dass es mir so viel besser geht, dass ich in Schönau wieder richtig lachen konnte, dass ich viel mehr wahrnehmen kann, dass ich schlafen kann.
Registriert sie das gar nicht? Im vergangenen Jahr war meine Lebensfreude im absoluten Minusbereich. So will ich bestimmt nicht weiterleben. Aber das weiß Corinna alles. Zumindest von dem, was sie mir immer so sagt, geht es ihr ja nicht viel besser. Mir wird klar, dass das wahrscheinlich genau der Punkt ist: Wir beide stecken in einer ganz ähnlichen Situation. Doch sie wählt einen komplett anderen Weg, damit klarzukommen. Sie will sich gerade nicht damit beschäftigen, was sie bedrückt, welche Ereignisse sie belasten. Stattdessen wird sie schwanger. Kein Wunder also, dass wir beide unsere Handlungen jeweils als Kritik am anderen auffassen müssen.
Es ist Feiertag in Bayern: der 15. August, Maria Himmelfahrt. In Baden-Württemberg ist dieser katholische Festtag zum Glück kein Feiertag mehr. Nicht weil ich arbeiten möchte, zu der Zeit sind sowieso immer Sommerferien. Aber es ist der Geburtstag meiner Mutter. Und den kann ich besser ignorieren, wenn es ein ganz normaler Tag ist, business as usual . Eigentlich besitze ich sowieso die etwas zweifelhafte Gabe, dass ich nie weiß, welches Datum wir haben. Der Geburtstagskalender, den mir eine Freundin mal geschenkt hat, ist von daher auch keine richtig große Hilfe.
Aber hier im tiefsten Bayern, in Schönau, in meinem Zimmer in der Klinik, wo alles auf Feiertagsbetrieb läuft, keine Anwendungen oder Therapien stattfinden und auch sonst nicht gerade der Bär steppt (außer wenn mal wieder einer illegal aus Italien einwandert), komme ich heute nicht darum herum, dass dies für mich ein sehr schmerzlicher Tag ist. Als Mama noch lebte, rückte an diesem Tag immer die versammelte Verwandtschaft an. Da meine Mutter vier Geschwister hatte, diese wiederum jede Menge Kinder, gab es immer eine ordentliche Party. Meistens spielte auch das Wetter mit, es gab leckere selbstgebackene Kuchen und einfach viel Trubel.
Heute regnet es Bindfäden. Bei Sonnenschein hätte ich natürlich viele Möglichkeiten, den Tag zu gestalten. Aber bei dem Regen bleiben mir eigentlich nur meine vier Wände in der Klinik.
Nach dem Frühstück telefoniere ich mit Tino und halte ihn ein bisschen vom Arbeiten ab. Meine Laune ist erstaunlich gut. Er ist etwas misstrauisch.
»Was hast du denn heute vor?«
»Du Scherzkeks, ich brauche nichts vorzuhaben: Wenn das so weiterregnet, erlebe ich hier das zweite Hochwasser. Was soll ich da denn machen? Das Einzige ist, dass ich sicher irgendwann spazieren gehe, egal wie nass ich werde.«
Aber das beruhigt ihn nicht: »Kannst du nicht noch etwas anderes unternehmen?«
»Nein, das ist schon in Ordnung. Wenn mir die Decke auf den Kopf fällt, kann ich noch schauen, was die anderen Patienten machen. Aber ich glaube, es ist auch allein okay. Jedenfalls fühlt es sich ganz gut an.«
Ich bin selber erstaunt, dass ich es einfach so stehen lassen kann: Es ist der Geburtstag meiner Mutter, es ist traurig, dass wir ihn nicht mehr feiern können. Und es ist in Ordnung, wenn ich traurig bin – aber es wirft mich nicht komplett aus der Bahn. Meine Stimmung hat sich in den vergangenen Wochen deutlich verändert: Ich weiß ja inzwischen, warum ich traurig bin. Deshalb kann ich das auch zulassen, kann dann wieder weggehen und im Hier und Jetzt etwas Schönes machen und mich über die Dinge freuen, außer vielleicht über das Wetter. Es ist kein so diffus schlechtes Gefühl mehr. Der Nebel löst sich langsam auf. Klar, manchmal tut es dafür richtig, richtig weh, und ich weiß gar nicht, wie ich das aushalten soll. Das habe ich sicher vermeiden wollen all die Jahre. Aber das sind Gefühle, die wohl der Situation angemessen sind. Und inzwischen weiß ich zum Glück auch, dass solche Momente vorbeigehen und ich hinterher mit weniger Ballast rumlaufe. Ich schnüre meine Schuhe, weil ich nach Berchtesgaden laufen will.
Am nächsten Morgen erwartet mich abermals Post: ein Brief aus Köln! Das Ergebnis von Omas Gentest, fährt es mir durch den Kopf. Ich kann es kaum erwarten, den Brief zu lesen. Ich versuche, möglichst ruhig den Umschlag zu öffnen, und zerre den Brief raus. Das Ergebnis liegt vor! »Bitte vereinbaren Sie einen Termin in Köln«, steht da. Muss ich dafür jetzt wirklich nach Köln fahren? Bitte nicht. Ich bin hier doch auch
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