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Oben ohne

Oben ohne

Titel: Oben ohne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Heeg
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»Ja, es geht.«
    Gestern erst wäre ich noch umgekippt, wenn mich die zwei Schwestern nicht wieder direkt zurück ins Bett verfrachtet hätten. Heute ist es deutlich besser, aber wir haben doch Respekt. Jetzt bin ich im Bad angekommen, vor dem Spiegel stütze ich mich zum Ausruhen aufs Waschbecken.
    »Willst du dich auf den Toilettendeckel setzen?«
    Ich nicke und beginne ganz vorsichtig, meinen lädierten Hintern Richtung Schüssel zu schieben. Für Außenstehende muss es aussehen, als würde ich rückwärts einparken. Als ich quasi über der Toilette angekommen bin, verlagere ich das Gewicht langsam nach hinten. Aber die Kante vom Krankenhausbett ist viel höher. Ich habe das Gefühl, die ganze Naht am Hintern würde aufreißen. Mir wird heiß vor Schmerz. Schnell Kommando rückwärts. »Geht nicht«, presse ich zwischen den Zähnen hervor, und Tino hilft mir sofort, mich wieder aufzurichten.
    Seltsamerweise hat mich dieser kurze Schmerz aber belebt. Von daher traue ich mir zu, jetzt kurz vor dem Spiegel zu stehen. Ich bin erstaunt über meinen Anblick. Die Haare sehen noch gar nicht so fettig aus, ich habe keine Ringe unter den Augen. Das Krankenhaushemd offenbart jetzt seine ganzen Vorteile: Ich bin heilfroh, dass ich nicht ein Nachthemd über den Kopf streifen muss. Das würde definitiv nicht gehen. Tino macht die Bändeln an meinem Nacken los und befreit mich vorsichtig von dem sackartigen Gebilde. Da ist sie also. Ich lasse den Anblick kurz auf mich wirken.
    »Sieht aus wie die kleine Schwester«, sage ich schließlich. »Bis auf die Tatsache, dass die Brustwarze fehlt, sind die Formen doch identisch. Ein bisschen kleiner, aber das schadet überhaupt nichts.«
    »Ich finde, dass es echt gut geworden ist«, sagt Tino. Kurz habe ich ganz vergessen, dass ich eigentlich nicht gut zu Fuß bin. Jetzt merke ich, dass ich schnell wieder zurück in die Horizontale möchte. Das reicht erst mal. Tino hilft mir, und der Rückweg verläuft ohne Zwischenfälle. Im Bett überkommt mich die Müdigkeit.
    Der restliche Vormittag vergeht wie im Schnelldurchlauf. Die Katzenwäsche hat die letzten Tage immer im Bett stattgefunden, später am Tag mache ich sogar einen weiteren Abstecher ins Bad.

    »Du nimmst jetzt einfach die Beutel hier vom Bett weg und trägst sie hinter mir her. Es kann nichts passieren.«
    Mein Bruder schaut mich ziemlich verunsichert an. Ich habe keine Ahnung, ob es ihn ekelt, ob er Bedenken hat, dass ich umkippe, oder was genau in ihm vorgeht. Meine Geschwister sind zu Besuch gekommen, und Tino hat sozusagen einen Nachmittag frei. Da mein Bruder nichts sagt, nehme ich darauf jetzt keine Rücksicht. Ich möchte weiterhin regelmäßig aufstehen, denn ich weiß, dass ich das jetzt üben muss. Und es klappt schon viel besser. Im Zimmer bin ich bereits voll der Chef. Jetzt will ich auf den Gang, meinen Radius erweitern. Mit zwei Geschwistern an meiner Seite sollte das nicht das Problem sein. Vorsichtig klettere ich aus dem Bett. Das dauert noch immer am längsten. Die Rückenlehne aufrichten, vorsichtig an den Rand rutschen, die Beine herunterheben, und langsam in die Senkrechte. Wenn ich stehe, ist es alles viel einfacher. Ich brauche noch immer gefühlte Ewigkeiten, bis ich überhaupt die Zimmertür erreiche, aber es geht. Auf dem Gang bin ich nur ein paar Meter unterwegs, aber immerhin. Glücklich und zufrieden mache ich mich auf den Rückweg. Eine Welle der Euphorie durchströmt mich: Das Transplantat hat überlebt, ich darf alles machen, was ich mir zutraue und was keine allzu großen Schmerzen hervorruft, ich kann wieder aufstehen, ich konnte bisher nachts immer schlafen, ich habe wenig Schmerzen, ich habe ein schönes Zimmer, ich habe eine nette Mitpatientin auf dem Zimmer, mit der ich viel Spaß habe, die Schwestern sind total nett, dass Essen ist gut – es geht aufwärts!
    Zuerst ist es mit meinen Geschwistern etwas zäh. Ich glaube, sie wissen nicht genau, wie sie mit der großen Schwester im Krankenhausbett umgehen sollen. Vielleicht haben sie auch mit Bildern zu kämpfen: von meiner Mutter im Krankenhausbett. Aber das weiß ich nicht. Sie reden nicht darüber. Wir haben zu Hause eben gelernt, dass man über manche Dinge nicht spricht. Aber ich gehe in die Offensive, erzähle ihnen vom OP-Verlauf und meinen Genesungsschritten.
    »Wollt ihr das Ergebnis eigentlich sehen«, frage ich schließlich. Anette nickt, Jörg will lieber nicht und geht kurz raus. Anette schaut es sich an, sagt aber nichts dazu.

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