Oberwasser
Akinetopsie-Anfall ausgelöst. Er hatte einen Schnappschuss von diesem neongrünen Farbfleck im Kopf gespeichert. Doch er fing sich schnell wieder, und die Welt lief weiter wie immer. Er wusste, dass stressige Ereignisse kleinere Anfälle nach sich ziehen konnten. Er hatte aber inzwischen Möglichkeiten gefunden, solche Vorfälle in den Griff zu bekommen. Das Bild verblasste langsam. Er war nun bei den Skeletten angekommen. Er nahm ein Fingerknöchelchen und steckte es in eine Beweissicherungstüte. Dann trat er den Rückweg an.
62 .
Boris ließ das Fernglas sinken und wählte eine Nummer. Er war der Unterste in der Hierarchie, das bedeutete, dass er nicht eigenständig handeln durfte, sondern Meldung machen musste.
»Hallo Arri, hier ist Boris. In der Nähe unseres Verstecks habe ich plötzlich mehrere Leute gesehen.«
»Mehrere Leute? Plötzlich gesehen? Was soll das heißen?«
»Ich kann es im Dunkeln nicht genau erkennen – es sind fünf oder sechs. Vielleicht auch mehr. Sie haben viel technisches Gerät dabei.«
»Und die sollen plötzlich aus heiterem Himmel aufgetaucht sein? Idiot!«
Boris biss die Zähne zusammen. Eines Tages würde seine Zeit schon noch kommen. Er war eingeteilt worden, hier oben, am Eingang zum Versteck, Wache zu schieben. Er hatte sich eine Aufnahme von
DJ Frans Eemil
, dem neuen Stern am RealTechno-Himmel, reingezogen, dadurch hatte er die Bescherung unten zu spät gesehen. Irgendjemand hatte versucht, das Versteck zu knacken, und zwar mit einem Großangriff, der auf professionelle Kräfte hindeutete.
»Ich glaube aber nicht, dass es BKA -Leute sind«, sagte Boris kleinlaut. »Soll ich die Höhlen sprengen?«
»Nein, das mache ich selbst, wenn es nötig ist. Es genügt, dass du alles vorbereitet hast. Aber sag mal: Ist das vielleicht Kommissar Jennerwein, der da herumschnüffelt?«
»Keine Ahnung. Was soll der Jennerwein in unserer Klamm treiben?«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht jagt er dort den Wilderer.«
»So ein technischer Aufwand wegen einem Wilderer?«
»Das lass mal meine Sorge sein. Du bleibst, wo du bist, ich löse dich ab.«
»Wie du meinst, Arri.«
»Nicht einmal zu einem einfachen Wachdienst bist du fähig! Du fährst jetzt zu diesem Typen, der in den Internetforen herumgeschnüffelt hat. Oliver Krapf heißt er. Es ist ein achtzehnjähriges Jüngelchen. Vielleicht wirst du ja mit so einem fertig. Das heißt, nein – Du wartest auf Nadja und fährst mit ihr.«
»Ich kann auch allein –«
»Nein, du machst nichts mehr allein.«
»Ja, Arri.«
»Versau es nicht, hörst du! Wir haben diesen Operationsort nicht jahrelang aufgebaut, um ihn bei den kleinsten Schwierigkeiten aufzugeben!«
Kurz darauf war Arri da. Boris nahm die Adresse von Oliver Krapf in Empfang und trottete missmutig davon. Arri robbte sofort an den Rand der Klippe und spähte durch das Nachtsichtgerät. Als er Jennerweins Team dort unten sah, pfiff er durch die Zähne. Auf einer Trage lag eine reglose Gestalt. Es war Fred Weißenborn. Arri schraubte das Zielfernrohr auf das Gewehr, um besser sehen zu können. Zwei Männer nahmen die Trage auf und trugen sie aus seinem Fokus, hinter eine der Felswände, von denen der Weg durchbrochen war. Jetzt tauchten sie wieder auf. Die Gischt sprühte, es war neblig und es war dunkel. Er musste es trotzdem wagen. Weißenborn durfte nicht auspacken. Auf keinen Fall. Sonst brach die ganze Operation zusammen, die sie in jahrelanger Arbeit aufgebaut hatten. Das musste er verhindern. Arri legte an.
»Grüß Sie Gott, sind Sie auch von der Presse? Dann sind wir Kollegen. Wenigstens rührt sich mal was im Nachtdienst.«
Was war das für ein Idiot? Der streckte ihm die Hand zum Schütteln hin.
»Manuel Ringseis, von der Loisachtaler Allgemeinen!«
Blitzschnell sprang er auf. Der Volltrottel hielt die Hand immer noch ausgestreckt. Was sollte er tun? Arri hatte eine Idee.
63 .
»Was ist passiert? Sind Sie in Ordnung, Hubertus?«, rief Maria, als Jennerwein oben aus der Taucherglocke stieg. »Sie sind ja kreidebleich!«
»Lassen Sie ihm ein paar Minuten Zeit zu verschnaufen!«, sagte Stengele. »Er ist ein wenig angeschlagen, das kommt vom Sauerstoffmangel im Gehirn. Vielleicht hat er sogar ein leichtes Pallauf-Syndrom. In der Taucherglocke gab es ja keine Frischluft.«
Als sich Jennerwein nach einer Viertelstunde erholt hatte, gab es für ihn gleich zwei äußerst unangenehme Überraschungen. Die erste war die, dass Weißenborn auf einer Trage
Weitere Kostenlose Bücher