Oberwasser
am besten sofort wieder vergessen, Chef?«
»Schnellstmöglich.«
»Was machen wir mit dem Brief?«
»Geben Sie her, ich leite ihn an den BKA -Einsatzleiter weiter, der soll der Sache nachgehen. Außerdem brauche ich jetzt alle. Wir haben in den nächsten Stunden zwei wichtige Aktionen vor. Erstens wird Gisela bald auf Tauchfahrt gehen, Becker hat das perfekt vorbereitet. Zweitens: Maria Schmalfuß und Ludwig Stengele besichtigen eine Großbaustelle und suchen dort nach Unregelmäßigkeiten. Nicole, sobald Ihr Mann mit Ihnen Kontakt aufnimmt, will ich sofort darüber informiert werden.«
Die Liste der heimatlichen Fremdgänger und Fremdgängerinnen blieb unbeachtet auf dem Schreibtisch liegen.
37 .
So wie man in Paris von jedem Cafétischchen aus den Eiffelturm sehen kann, in Rom von jeder Trattoria aus das Kolosseum, so gibt es im Kurort kaum eine Perspektive, bei der sich nicht irgendeine Bergwand, eine Skiabfahrt oder eine Sprungschanze ins Bild schiebt. Das Gebirgige ist so allgegenwärtig, dass man ihm unentrinnbar ausgeliefert ist. Wenn hingegen der Kieler die See, die Möven und den Horizont satt hat, dann dreht er sich einfach um und blickt landeinwärts. Der Werdenfelser hingegen müsste schon den Kopf demütig zu Boden senken, um seine wuchtige Heimat um sich herum ganz und gar zu vergessen. Und selbst dann blickt er auf seine nagelneuen blitzblanken Haferlschuhe, in denen sich die Wettersteinwände spiegeln.
Ignaz und Ursel Grasegger hatten gar nicht das Bedürfnis, sich abzuwenden, ihre Terrasse im neu bezogenen Haus gab den Blick frei auf das vollständige Alpenpanorama. Momentan hatte Ignaz allerdings keinen rechten Blick für die Herrlichkeiten, er kniete auf dem Boden und installierte kleine Störsender an die Holzverstrebungen des Balkons. Drinnen am Herd stand Ursel vor einem halben Dutzend köchelnder und brodelnder Tiegel. In einer gusseisernen Pfanne röstelte
Hoba
, in einem Sudtopf schwammen
Schuchsen
und andere Topfennudeln, in einer riesigen Kasserolle brutzelten gefüllte und panierte Wammerlrollen. Diese klassische Arbeitsteilung zwischen Technik draußen und Küche drinnen konnte bei solch einem gutbürgerlichen Ehepaar wie den Graseggers nicht weiter verwundern, zudem war die Arbeitsteilung in diesem Fall sinnvoll: Ursel, einer alten Wirtsfamilie entstammend, produzierte die besten panierten Wammerl landauf landab, Ignaz hingegen war der beste Wanzenaufspürer und -vernichter in ganz Nord- und Mittelitalien gewesen. Als beide mit ihrer Arbeit fertig waren, klatschte Ursel drei Mal in die Hände, das war das Zeichen zu einem festlich-üppigen Bauernmahl. Und jetzt hatten sie wieder einen Blick fürs Montane. Sie aßen das erste Mal seit Jahren wieder im Angesicht der heimatlichen Berge. Sie prosteten sich zu. Unwirklich, wie ferne Mahner an eine vergangene Zeit hoben sich die beiden Waxensteine vom wolkenlosen Himmel ab. Sie schimmerten bläulich gefleckt, eigentlich zeigten sie sich heute reichlich hässlich, wie zwei überdimensionale Eckzähne eines Urtieres, eines Rhinozerosdrachen zum Beispiel, zerbissen und roh, zersplittert und grausam in den Himmel gereckt. Nicht zufällig lag unterhalb der beiden Waxensteine das Höllental, der Sommersitz des Teufels, sein Castelgandolfo, wenn der Vergleich gestattet ist.
»Hast du Wanzen gefunden?«, fragte Ursel.
»Nein. Und wenn welche da sind, habe ich ihnen den guten Empfang gründlich vermasselt.«
»Wir können also frei reden?«, fragte sie.
Statt einer Antwort kreuzte Ignaz Daumen und Ringfinger der linken Hand. Das war das Zeichen. Sie konnten frei reden. Ein
Ja
ohne dieses Zeichen bedeutete
nein
.
»Ich habe mir überlegt, dass wir einige Geschäfte von hier aus lenken könnten«, begann Ursel. Sie war unschlüssig, welche der Köstlichkeiten sie sich zuerst greifen sollte. Ihre Hände kreisten und flatterten über den Tellern wie wählerische Falken über einer mausgefüllten Sommerwiese.
»Wie stellst du dir das vor?«, antwortete Ignaz mit vollem Mund. »Und
was
für Geschäfte überhaupt?«
»Wir könnten eine Art Informationsbüro aufmachen.« Sie hatte sich entschieden und griff sich ein Topfenkrapferl, das sie nach einem Spezialrezept ihrer Großmutter zubereitet hatte. »Wir haben spezielle Kunden, die Informationen über andere Kunden brauchen – wir vermitteln diese Informationen.«
»Wie willst du das machen? Wir können nicht mehr so wie früher in der Weltgeschichte herumfahren. Wir müssen uns täglich
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