Oberwasser
auf dem Revier melden. Beide. Wahrscheinlich die nächsten Jahre. Hast du das vergessen?«
»Wir fahren ja auch nicht in der Weltgeschichte herum – wir arbeiten zu Hause, am Computer.«
»Ursel, mit diesen Sachen kennen wir uns zu wenig aus.«
»Wir könnten die Kinder einspannen. Die kennen sich aus.«
»Du willst die Kinder mit hineinziehen?«
»Wir brauchen bloß eine Einführung von unserem Philipp, wie wir eine absolut geschützte Internetverbindung aufbauen können.«
»Vergiss es, Ursel. Wir steigen da nicht mehr ein. Und außerdem, so viel weiß ich auch: Eine absolut geschützte Internetverbindung, die gibt es gar nicht. Und wenn es sowas gibt, dann sind wir zu alt dafür.«
Jetzt gab es aber etwas, wofür sie nicht zu alt waren, nämlich Hollerküchlein und Hasenöhrl, Kalbsbackerl und eine sogenannte Fastensuppe, die ihrem Namen allerdings keine Ehre machte, dazu ein
Umbertumb
, also »um und um« mit Honig-Nuss-Soße umgebenes Obst. Die beiden schmausten noch eine Weile in den stillen Abendhimmel hinein, wie sie es auch früher gemacht hatten, als sie noch gut im Geschäft waren. Ignaz legte eine CD mit zithergestützten Dreigesängen beißend schriller Volkssängerinnen ein. Ursel holte eine Taube aus dem Schlag und fütterte sie mit einigen Erbsen, Maiskörnern und mit Anisöl angefeuchtetem Weizen – das machte die Atemwege frei.
♫ Du bist mei Freid aufd Nacht
… sangen die Hobauer Deandln, Ursel entrollte feines Seidenpapier und schrieb ein paar Zeilen darauf.
Vorsichtig rollte Ursel den Brief zusammen und bestückte die Taube mit der verschlüsselten Botschaft. Sie gab ihr so etwas wie einen Klaps, und das Tier flog in die Abendsonne.
»Ich tät am liebsten mitfliegen«, sagte Ursel. »Ich habe schon wieder Heimweh.«
»Heimweh? Wir sind doch hier daheim.«
»Ich weiß gar nicht mehr, wo ich wirklich daheim bin.«
»Hast du einen Gruß von mir dazugeschrieben?«, fragte Ignaz.
»Freilich habe ich das.«
Die Taube nahm Kurs nach Süd-Südost, sie überquerte das verschlafene Grainau, ließ das Zugspitzmassiv links liegen, stieg auf hundertfünfzig Meter Höhe und flog bald über österreichischem Staatsgebiet. Vor ihr bäumte sich der Patscherkofel auf, dann die Zillertaler Alpen und das Eisacktal, in dem noch rätoromanisch und kervisch geredet wurde, in dem die Welt also noch in Ordnung war. Die Taube stieg noch höher. Bergsteiger winkten ihr, ein Gamsjäger legte auf sie an, ließ das Gewehr aber dann doch wieder sinken. Ein romantisch veranlagter Hüttenwirt in Bozen zog den Hut und verneigte sich. In einem Gewirr von grünen Auen und Weinbergen ließ sie sich nach unten fallen, sie landete auf einem Feld, um nach ein paar Körnern zu picken.
»Mogsch a Cöca Cöla?«, hörte sie einen Südtiroler Feldarbeiter zu der Bäuerin sagen.
»Woll«, erwiderte diese.
Die Taube flog weiter. Südlich von Rovereto durchschnitt sie einen scharfen Regenguss, rechts sah sie den Gardasee vorbeiziehen, und vollkommen erschöpft, aber glücklich kam sie in Toreggio an.
Es lohnt sich nicht, im Atlas nachzuschlagen, wo Toreggio liegt. Man wird es nicht finden, denn offiziell existiert eine Ansiedlung mit diesem Namen nicht. Es gibt einen kleinen Flecken irgendwo in Norditalien, und ein Ortsteil – ach was, Ortsteil! – ein paar Häuser davon heißen so. Toreggio steht deswegen auch in keinem Lexikon, und es ist ganz und gar davon abzuraten, danach zu googeln. Denn abgesehen davon, dass man keine Suchergebnisse bekommt, lenkt man die Aufmerksamkeit gewisser italienischer Familien auf sich, auch heute noch. Ignaz und Ursel Grasegger hingegen kannten Toreggio in- und auswendig, sie hatten die letzten zwei Jahre dort gelebt. Die Taube steuerte die Via Francigena an, dort lag die Villa Nobile. Die Taube landete auf einem der Dachbalken, und kaum hatte sie sich gesetzt, da griff auch schon eine Hand nach ihr und löste ihr den Gummiring.
»Ignaz und Ursel haben geschrieben«, rief Giacinta hinunter ins Haus. Padrone Spalanzani saß vor einem Teller Nudeln. Was heißt Nudeln – es waren die feinsten Pappardelle all’aretina, die man sich denken konnte. Padrone Spalanzani ließ auch sonst kein Klischee aus. Zu den Pappardelle all’aretina hörte er italienische Opernarien, vor der Tür warteten Leibwächter in viel zu engen schwarzen Anzügen, und er selbst sprach so heiser wie der Pate persönlich.
»Was schreiben sie?«, fragte er. »Wie geht es ihnen?«
»Gut geht es
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