Oberwasser
Griebenschmalz und Ginkgo-Wildpreißelbeer-Mousse. Es war ein spätes Frühstück der besonderen Art. Die Alpen glitzerten, das dunkle Bier dampfte süß aus den Krügen. Lange, sehr lange schwiegen die Graseggers.
»Ein Versteck suchen sie also«, sagte Ignaz schließlich. »Denkst du auch an den Ort, an den ich denke?«
»Ja, ich weiß, was du meinst. Aber das ist völlig unmöglich.«
»Trotzdem. Es schadet ja nicht, wenn wir es ihnen sagen.«
»Die halten uns für verrückt.«
»Das tun sie eh. Besser als für kriminell.«
45 .
Der Münzschätzerfuzzi hatte dazu geraten, zu einem Volkskundler zu gehen, der sich mit Trachten und Schmuck auskannte, deswegen war Oliver Krapf gleich zur Uni gelatscht und hatte sich dort einen Termin bei dem einzigen Professor des Instituts geben lassen. Es war das Institut für Ethnologie, Kulturanthropologie, Volkskunde, Völkerkunde, Bodylore (was immer das auch war) und einem ganzen Eisenbahnwaggon voll weiterer Wissenschaftszweiglein. Der Professor trug offene lange Haare, Sandalen und dicke, graue Wollsocken. Er erinnerte Oliver sofort an seinen Vater.
»Ja, das ist eine Schmuckmünze«, sagte Jesus. »Vielleicht für eine Bürgermeisterkette, wer weiß. Schau hin, am Rand der Münze, an der Rändelung, da siehst du kleine Bruchstellen, dort war einmal ein Anhänger befestigt. Ich tippe auf eine Silberkette, an der die Münzen aufgereiht waren.«
Verdutzt_schau 2.0 -Hallelujanochmal! Das war ja ganz was Neues! Den Rand der Münze hatte sich Krapf gar nicht so genau angesehen. Der Ethno-Freak sah zwar aus, als hätte er keinen Peil von gar nichts, aber in diesem Fall war er ein echter Schnellchecker gewesen. Wie hatte ihm das entgehen können! Sein Blick war so auf die Kritzeleien getunnelt gewesen, dass er den Rand nicht beachtet oder vielmehr nicht für wichtig genug gehalten hatte. Er hätte sich ohrfeigen mögen. Er hatte die kleinen platten Stellen, die die Riffelungen regelmäßig durchbrachen, für ornamentale Muster, für unwichtige Verzierungen gehalten. Alter Kryptologenspruch: Schau nicht in die Mitte, wo alle hinglotzen, schau auf den Rand, dort versteckt sich das wirklich Bedeutende.
»Und aus welcher Gegend ist die Münze, Herr Professor?«
»Nenn mich einfach Che«, sagte der Freak.
»Also, Che, woher ist sie?«
»Ich tippe mal auf Süddeutschland. Bayern, Baden-Württemberg, Nordwestschweiz, so in der Gegend. Es könnte Trachtenschmuck sein.«
Che stand auf, zog ein speckiges Buch aus dem Regal und blätterte darin herum.
»Hier, schau her, Mann, das sind Volkstrachten aus den Alpenregionen. Bei den Frauen siehst du das sogenannte
Geschnür
. Das ist eine mehrere Meter lange Kette mit Münzen und einem Vorstecher als Abschluss. Das Geschnür wird mit langen Nadeln am Mieder befestigt. Soll böse Geister fernhalten und vor allem auf den Reichtum der Geschmückten hinweisen. Hat man natürlich nur an Sonn- und Feiertagen getragen.«
»Können Sie etwas mit der Schrift anfangen, die da draufsteht?«
Che, der wahrscheinlich bei Woodstock oder ähnlichen Veranstaltungen in der vordersten Reihe gestanden hatte, nahm eine Lupe aus der Schublade.
»Mit diesem Vergrößerungsglas habe ich eine handbeschriebene Postkarte von Jimi Hendrix betrachtet«, sagte er versonnen. »Er hat wahnsinnig klein geschrieben. Große Musik, kleine Schrift. War auch bei Mozart so.«
»Und die Schrift auf meiner Münze?«
»Ich weiß nicht so recht. Wahrscheinlich was Religiöses.«
»Ist es eine Bibelstelle?«
»Komisch, dass alle immer gleich an eine Bibelstelle denken, wenn irgendwo drei Buchstaben und zwei Zahlen auftauchen. Möglich wäre es natürlich schon, aber wie wäre es mit einem Bauernkalender? Dem I-Ging-Buch, der Mao-Bibel, einem bestimmten Lexikon – was weiß ich.«
»Einem Lexikon?«
Che bemerkte den skeptischen Gesichtsausdruck von Oliver Krapf. Er legte ihm den Arm väterlich um die Schulter.
»Lass mich mal nachdenken, Junge. Es ist Schmuck für eine Feiertagstracht. An einem Feiertag geht man in die Kirche. Geht man mit der Bibel in die Kirche? Nein, die Bibel, die liegt zu Hause auf der Kommode – aber das Gesangbuch, das nimmt man mit! Und jetzt kommts: Anfang des neunzehnten Jahrhunderts hat es im süddeutschen Raum ein beliebtes Gesangbuch gegeben. Es durfte in keinem guten katholischen Haushalt fehlen, das
Leibhaftige
.«
»Wie kommen Sie jetzt auf ein Gesangbuch? Und grade auf dieses?«
»Ganz einfach, Junge, weil hier auf der Münze
Weitere Kostenlose Bücher