Oberwasser
mich vielleicht erschreckt!«, rief Oliver.
»Wenn man bei dir klingelt oder die Tür schnell aufmacht, kommt ja wieder so ein blödes Filmzitat.«
»Das Buch war sowieso viel besser.«
»Und wie wars in Marokko?«, fragte seine Mutter. Beide steckten in Holzsandalen und trugen Batikhemden. Echt peinlich, seine Eltern.
56 .
Das war vielleicht eine Hitze! Hubertus Jennerwein lief im Taucheranzug durch den Kurort. Unter der normalen Kleidung spannte sich ein enger Neoprenanzug, hätte er sein Hemd aufgerissen, wäre jeder sofort erschrocken zurückgewichen vor Supermann. Doch nur ein armer Kriminalhauptkommissar tappte auf schier aussichtslosem Posten durch die Fußgängerzone des Ortes, wie ein Ministrant, dem bei der Sonntagsfrühmesse schon das Badezeug unter dem Messgewand hervorlugte.
Sie hatten beschlossen, sich der Klamm sternförmig und zeitlich versetzt zu nähern, um keine allzu große Aufmerksamkeit zu erregen. Johann Ostler und Maria Schmalfuß wanderten von oben, von der Höllentalangerhütte auf die Klamm zu, das (ausgewiesen schwindelfreie) Pionierteam Schwattke/Becker wagte sich auf den Stangensteig, der oben an der Klamm entlang und in einigen steilen Abstecherpfaden herunter führte. Der Bergfex und Kletterer Ludwig Stengele war hoch auf die Tiroler Wiese gegangen, um durch ein selten begangenes Waldstück in die Klamm abzusteigen, Jennerwein schließlich näherte sich, wie Millionen andere Touristen auch, der Schlucht von unten, er wollte ganz normal durch die Pforte der Eingangshütte gehen. Auf Franz Hölleisen war das traurige Los gefallen, auf dem Revier zu bleiben und Telefondienst schieben zu müssen. Ach so, ja: Gisela. Sie war auch mit von der Partie, sie war auf die fünf Rucksäcke verteilt worden, Jennerwein hatte den Kopf bekommen. In den eilig, aber sorgfältig gepackten Rucksäcken befand sich schrecklich viel technisches Gerät: Eine Wärmebildkamera, Angelzeug, Tauchutensilien, ein Notkoffer für Medizinisches, Wärmedecken, natürlich auch Kommunikationsmedien und schließlich Waffen. Sie hatten guten Funkkontakt und gaben sich in regelmäßigen Abständen ihre Positionen durch. Die Dattelberger-Truppe war auf dem Vormarsch – in die richtige Richtung. So hoffte Jennerwein zumindest.
Sie wollten sich kurz nach Einbruch der Dunkelheit an der ersten von Becker ausgewählten Reynolds-Stelle treffen, die fast genau in der Mitte der Schlucht lag. Jennerwein hatte also den kürzesten Weg, darum war er etwas später als die anderen losgegangen. Es dämmerte schon, als er am Kurpark vorbeiging, den er schon seit seiner Kindheit nicht mehr betreten hatte. Seine Großeltern hatten oben im Kurhaus gewohnt, sie waren dort Hausmeister gewesen. Sie hatten genau am Tag seiner Geburt eine Edeltanne vor dem Kurhaus eingepflanzt. Sie musste folgerichtig sein Alter haben. Er ging nicht mehr in den Kurpark, denn er hatte Angst, dass die Tanne inzwischen gefällt worden sein könnte.
Als er den Ort verlassen hatte und in Richtung Klamm marschierte, meldete er sich über Funk. Irgendwelche Besonderheiten? Nein, alles in Ordnung. Natürlich war er sich immer noch nicht sicher, ob an der Geschichte des Bestatterehepaares etwas dran war. Aber er wollte auch die kleinste Chance wahrnehmen. Andererseits: Sollte er wirklich den Hinweisen eines verurteilten und vielleicht nur nach außen hin reumütig gewordenen Verbrecherpaares nachgehen? Er traute Bonnie und Clyde nicht über den Weg. Hatten sie ihm eine Falle gestellt, um die Polizei abzulenken und dann woanders zuzuschlagen? Unwahrscheinlich, aber möglich. Eigentlich hatte Jennerwein zu wenig Personal. Er hätte noch zwei Beamte gebraucht, die die Graseggers im Auge behielten. Wenn Becker nicht gewesen wäre! Er hatte sich von ihm überzeugen lassen. Becker versprach sich einiges davon, in der Höllentalklamm zu suchen. Er hatte die Wasserstellen nach Prioritäten geordnet, die ersten drei waren besonders heiß, und bei der allerheißesten, die sie jetzt ansteuerten, sollte Gisela, diesmal in einer Art Taucherglocke, ins Wasser gelassen werden. Jennerwein stieg den Bergweg hinauf. Er musste den ganzen Flößer-Quatsch beiseite lassen. Überlebende eines Unfalls vor zweihundert Jahren? Und daraus haben sich Höhlenmenschen entwickelt? Weg mit diesem Unfug, das lenkte nur ab, er musste sich auf die bevorstehende Aktion konzentrieren. Ein Wanderer kam ihm von oben entgegen und grüßte ihn beiläufig. Er schaute zurück – dort unten
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