Oblomow
das?« fragte er nur, den Schlafrock anblickend.
»Die Hausfrau hat ihn heute gebracht; sie hat den Schlafrock gewaschen und geflickt«, sagte Sachar.
Oblomow blieb im Lehnstuhle sitzen. Alles um ihn herum versenkte sich in Schlaf und Finsternis. Er saß, sich auf den Arm stützend, da, ohne das Dunkel zu bemerken und das Schlagen der Uhr zu hören. Sein Verstand ging in einem Chaos von formlosen, unklaren Gedanken unter, die wie die Wolken am Himmel ziellos und zusammenhanglos vorüberzogen – er hielt keinen einzigen auf. Sein Herz war tot; darin hatte für einige Zeit jedes Leben aufgehört.
Die Rückkehr zum Leben, zur regelmäßigen Betätigung des sich ansammelnden Andranges von Lebenskräften ging langsam vor sich. Der Schlag war sehr grausam gewesen, und Oblomow fühlte weder seinen Körper noch Müdigkeit oder sonst irgend etwas. Er konnte vierundzwanzig Stunden wie ein Stein daliegen oder ebensolange gehen, fahren und sich wie eine Maschine bewegen. Entweder lernt es der Mensch nach und nach, auf mühevollem Pfad sich dem Schicksal zu fügen – und dann nimmt der Organismus langsam und allmählich alle seine Funktionen wieder auf – oder das Unglück knickt den Menschen und er erhebt sich nicht mehr – je nachdem das Unglück und der Mensch ist. Oblomow konnte sich nicht erinnern, wo er saß und ob er überhaupt saß; er schaute mechanisch vor sich hin und bemerkte nicht, wie der Morgen zu dämmern begann; er hörte und wußte nichts davon, daß der trockene Husten der Großmutter ertönte, daß der Hausbesorger auf dem Hof Holz zerkleinerte, daß man im Hause zu klopfen und zu lärmen begann, er sah und sah zugleich nicht, wie die Hausfrau und Akulina auf den Markt gingen, wie das Paket am Zaun vorüberhuschte. Weder die Hähne noch das Hundegebell und das Knarren des Tores konnten ihn aus seiner Erstarrung aufrütteln. Die Tassen klapperten und der Samowar zischte.
Endlich gegen zehn Uhr öffnete Sachar mit dem Präsentierbrett die Tür in Oblomows Zimmer, schlug dann nach seiner Gewohnheit mit dem Fuß aus, um die Tür zu schließen, zielte wie gewöhnlich fehl, hielt aber das Brett auf; er hatte darin doch eine gewisse Übung erlangt, außerdem wußte er, daß Anissja ihn hinter der Tür beobachtete und sowie er etwas fallen ließ, sofort hereinspringen und ihn verlegen machen würde. Er hatte glücklich das Bett erreicht, indem er den Bart an das Brett schmiegte und es fest umarmt hielt; aber als er gerade die Schalen auf den Tisch neben dem Bett stellen und den Herrn aufwecken wollte, bemerkte er, daß das Bett unberührt und der Herr nicht darin war! Er fuhr zurück, die Schale kollerte auf die Erde und die Zuckerdose folgte ihr. Er begann die Gegenstände in der Luft aufzufangen, wiegte dabei das Brett und ließ das übrige fallen. Es gelang ihm nur ein Löffelchen auf dem Brett zurückzubehalten.
»Was das für ein Unglück ist!« sagte er, indem er zusah, wie Anissja Zuckerstücke, Scherben und Brot aufhob. »Wo ist denn der Herr?«
Und der Herr saß im Lehnstuhle und war ganz fahl im Gesicht. Sachar blickte ihn mit weit offenem Munde an.
»Warum sind Sie die ganze Nacht im Lehnstuhl geblieben und haben sich gar nicht niedergelegt, IIja Iljitsch?« fragte er.
Oblomow wandte ihm langsam den Kopf zu, blickte Sachar, den ausgeschütteten Kaffee und den auf dem Teppich herumliegenden Zucker zerstreut an.
»Und warum hast du die Schale zerschlagen?« sagte er und trat ans Fenster.
Der Schnee fiel in großen Flocken herab und deckte die Erde ganz zu.
»Schnee, Schnee, Schnee«, sagte er, sinnlos den Schnee anblickend, der den Zaun, das Gitter und die Beete im Gemüsegarten mit einer dichten Schicht bedeckt hatte. »Er hat alles verschüttet!« flüsterte er dann verzweifelt, legte sich aufs Bett und fiel in einen bleiernen, nicht erquickenden Schlaf. Es war schon Mittag vorbei, als ihn das Knarren der Tür, die in die Zimmer der Hausfrau führte, aufweckte; in der Tür erschien ein nackter Arm und eine Hand mit einem Teller; auf dem Teller dampfte eine Piroge,
»Heute ist Sonntag«, sprach eine freundliche Stimme, »wir haben Pirogen gebacken, wünschen Sie nicht zu kosten?«
Doch er antwortete nichts; er hatte Fieber.
Vierter Teil
Erstes Kapitel
Seit Ilja Iljitschs Krankheit war ein Jahr vergangen. Dieses Jahr hatte an verschiedenen Enden der Erde viele Veränderungen verursacht; es brachte das eine Land in Aufruhr und beruhigte ein zweites; hier war ein strahlendes Gestirn der Welt
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