Oblomow
Tante, »Oljga wollte Sie überraschen.«
Er blickte Oljga an; ihr Gesicht bestätigte nicht die Worte der Tante. Er blickte sie noch forschender an, doch sie war unergründlich und seiner Beobachtung unzugänglich.
Was ist mit ihr? dachte Stolz, ich habe sie sonst auf den ersten Blick verstanden, und jetzt ... welch eine Veränderung!
»Wie gereift und wie gewachsen Sie sind, Oljga Sjergejewna!« sprach er. »Ich erkenne Sie nicht! Und wir haben uns kaum ein Jahr nicht gesehen. Was haben Sie getan, was war mit Ihnen? Erzählen Sie, erzählen Sie!«
»Ja ... nichts Besonderes«, sagte sie, einen Stoff betrachtend.
»Was ist mit Ihrem Gesang?« fragte Stolz, die für ihn neue Oljga betrachtend und das ihm unbekannte Spiel ihrer Gesichtszüge studierend, doch dieses Spiel brach hervor und verschwand wie ein Blitz.
»Ich habe schon lange nicht mehr gesungen, schon seit zwei Monaten nicht mehr«, sagte sie nachlässig.
»Und was ist mit Oblomow?« fragte er plötzlich. »Lebt er? Er schreibt nicht.«
Jetzt hätte Oljga vielleicht unwillkürlich ihr Geheimnis verraten, wenn die Tante ihr nicht zu Hilfe gekommen wäre.
»Denken Sie sich«, sagte sie, aus dem Geschäft heraustretend, »er hat uns täglich besucht und ist dann verschwunden. Als wir ins Ausland reisen wollten, habe ich zu ihm hingeschickt – man hat sagen lassen, er sei krank und empfange niemand, wir haben uns also nicht mehr gesehen.«
»Und auch Sie wissen nichts?« fragte Stolz besorgt Oljga.
Oljga betrachtete eingehend einen vorüberfahrenden Wagen durch ihr Lorgnon.
»Er ist tatsächlich erkrankt«, sagte sie, mit geheuchelter Aufmerksamkeit dem Wagen folgend. »Schauen Sie, ma tante, mir scheint, unsere Reisegefährten sind vorübergefahren!«
»Nein, erzählen Sie mir genau von meinem Ilja«, ließ Stolz nicht ab. »Was haben Sie mit ihm getan? Warum haben Sie ihn nicht mitgebracht?«
»Mais ma tante vient de dire«, sagte sie.
»Er ist furchtbar träge«, bemerkte die Tante, »und dann ist er so menschenscheu; sowie drei, vier Personen zu uns kommen, geht er gleich fort. Denken Sie sich, er hat ein Abonnement in die Oper genommen und hat nicht einmal die Hälfte der Opern besucht.«
»Er hat Rossini nicht gehört«, fügte Oljga hinzu.
Stolz schüttelte den Kopf und seufzte.
»Weshalb haben Sie zu reisen beschlossen? Für lange? Wie ist es Ihnen plötzlich eingefallen?« fragte er.
»Ihretwegen, auf den Rat des Arztes hin«, sagte die Tante, auf Oljga zeigend. »Petersburg hat ihr schlecht behagt, und wir sind für den Winter fortgereist, wir haben aber noch keine Entscheidung getroffen, wo wir ihn verbringen werden. In Nizza oder in der Schweiz.«
»Ja, Sie haben sich sehr verändert«, sagte Stolz, sinnend Oljga in die Augen blickend.
Iljinskys brachten ein halbes Jahr in Paris zu, und Stolz war ihr einziger täglicher Gesellschafter und Führer, Oljga begann sich merklich zu erholen; sie ging von ihrer Nachdenklichkeit zu Ruhe und Gleichgültigkeit über, wenigstens äußerlich. Was in ihrem Innern vorging, wußte niemand, doch sie wurde nach und nach wieder zu Stolz' Freundin, wenn sie auch nicht mehr ihr früheres lautes, kindliches, silberhelles Lachen besaß, sondern nur zurückhaltend lächelte, wenn Stolz ihr etwas Komisches erzählte. Sie schien sich manchmal sogar darüber zu ärgern, daß sie lachen mußte.
Er merkte es sofort, daß sie nicht mehr zum Lachen zu bringen war. Manchmal hörte sie seinen komischen Bemerkungen mit unsymmetrisch liegenden Augenbrauen und mit einer Falte auf der Stirn ohne ein Lächeln zu, blickte ihn dann schweigend an, als wäre sie ungeduldig oder als werfe sie ihm seinen Leichtsinn vor, und richtete an ihn plötzlich, statt seinen Witz zu beantworten, eine tiefgehende Frage, die sie mit einem so beharrlichen Blick begleitete, daß er sich seiner nachlässigen, leeren Worte schämte. Manchmal äußerte sich in ihr eine solche innere Ermüdung von dem täglichen Trubel und leeren Geplauder der Menschen, daß Stolz sich plötzlich einer anderen Sphäre zuwenden mußte, die er sonst selten und ungern im Gespräch mit Frauen berührte. Wieviel Geist, Spitzfindigkeit und Anstrengung mußte er anwenden, damit Oljgas tiefer, fragender Blick sich klärte und beruhigte, nicht länger dürstete und nicht nach etwas in der Ferne an ihm vorbei suchte! Wie regte es ihn auf, wenn ihr Blick bei einer nachlässigen Erklärung trocken und streng wurde, wenn die Brauen sich zusammenzogen und der Schatten
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