Obsession
Erektion gehabt zu haben.
Genauer gesagt, er konnte sich erinnern,
keine
gehabt zu haben. Er war betrunken gewesen, betäubt vom Alkohol – und froh, dass nicht mehr passiert war, aber er konnte nicht
leugnen, dass er bis zu dem Moment, als er einen Rückzieher machte, definitiv auf das eine aus gewesen war.
Nur der entscheidende Teil von ihm offenbar nicht.
Noch beunruhigender war die Erkenntnis, dass er seit Sarahs Tod keine Erektion mehr gehabt hatte. Was vielleicht eine ganz
normale Reaktion war, aber es blieb die Tatsache, dass es sich mittlerweile um über vier Monate handelte. |153| Keine lange Zeit eigentlich, außerdem war er noch nicht so weit, mit einer anderen Frau zu schlafen. Doch selbst das schlechte
Gewissen, das ihn beschlich, wenn er an so etwas dachte, konnte ihn nicht davon abhalten, sich Sorgen über diesen Zustand
zu machen.
Als er allerdings in der abgetrennten Wartezone vor dem Gerichtssaal saß, gehörte der Mangel an Erektionen nicht zu seinen
primären Gedanken. Neben ihm warteten andere Leute, um als Zeugen aufgerufen zu werden, aber er kannte sie nicht. Niemand
sprach miteinander. Da war eine korpulente Frau mittleren Alters, deren Busen ihr Kleid wie eine Teppichrolle füllte. Sie
hatte ihr rotes Haar aufgetürmt und las konzentriert in einem Taschenbuch, das sie so weit umgeklappt hatte, dass das Cover
den Buchrücken berührte. Die Hand, die es hielt, hatte dicke Wurstfinger, die so rosarot waren, als würden sie häufig gewaschen
werden.
Ben beschloss, dass sie als Schwester in dem Krankenhaus arbeitete, aus dem Jacob entführt worden war. Den Asiaten ein paar
Plätze weiter erklärte er für den Doktor, der Sarah nach der «Geburt» untersucht hatte. Ferner saßen dort zwei Polizisten,
einer in Uniform, der andere in Zivil, allerdings mit einer Frisur und einer Garderobe, die keinen Zweifel an seinem Beruf
ließen. Er kratzte sich ständig im Ohr und wischte hinterher verstohlen den Finger an seiner Hose ab. Schließlich gab es noch
einen weiteren Mann und zwei andere Frauen, aber mittlerweile war Ben des Spiels überdrüssig geworden.
Wahrscheinlich hatte er sowieso alle falsch eingeschätzt.
Er kam am Nachmittag an die Reihe. Als er in den Gerichtssaal ging und in den Zeugenstand trat, spürte er eine Art Lampenfieber.
Beim Verlesen des Eides klang seine Stimme unnatürlich laut. Jessica konnte er zuerst nicht |154| sehen, zu viele Gesichter starrten ihn an. Und als er die Frau auf der Anklagebank sah, war es nicht die Jessica, an die er
sich erinnerte.
Sie hatte abgenommen. Ihr braunes Kleid hing wie ein Sack von ihren Schultern. Sie hatte noch immer ein Vollmondgesicht, aber
jetzt waren die Linien ihres Kiefers und ihrer Wangen zu erkennen, und unter ihrem Kinn hing ein Lappen loser Haut. Sie war
blass, ihr Haar strähnig und schwunglos. Selbst quer durch den Gerichtssaal konnte Ben die grauen Stellen erkennen. Sie schaute
ihn nur einmal mit einem apathischen, gleichgültigen Blick an und starrte dann wieder auf einen Punkt am Boden. Mit einer
seltsamen Mischung aus Abscheu und Mitleid wurde Ben klar, dass der Prozess bedeutungslos war. Egal wie er ausging, für sie
konnte es nicht mehr schlimmer kommen.
Erst befragte ihn der Staatsanwalt, dann wurde er dem Verteidiger übergeben. Es war so unangenehm, wie er erwartet hatte.
Als er den Zeugenstand verlassen konnte, zitterten seine Knie. Mit starrem Blick nach vorn verließ er den Gerichtssaal.
Das Urteil wurde zwei Tage später verkündet. Ben hörte davon im Autoradio. Jessica wurde der Beihilfe für schuldig befunden
und zu drei Jahren Haft verurteilt.
Er schaltete das Radio aus.
Nachdem der Prozess vorbei war, stand seiner Vorfreude, Jacob zu sehen, eigentlich nichts mehr im Weg. Dass er aufgeregt sein
würde, hatte er erwartet. Doch als der Sonntag näher rückte, der als erster Kontakttermin festgelegt worden war, schien sich
die Angst, die er wegen der Gerichtsverhandlung gehabt hatte, komplett auf das neue Ziel übertragen zu haben.
|155| Keith hatte angeboten, ihn zu begleiten, aber Ben hatte abgelehnt. Keith hatte noch eine Beule auf der Nase vom letzten Mal,
als er ihn moralisch unterstützt hatte, außerdem war Bens Beziehung zu Tessa schon angespannt genug. Er wollte sie nicht noch
weiter verschlimmern, das war er Keith schuldig.
Aber der eigentliche Grund war, dass er Jacob allein sehen wollte.
Jetzt, wo er die Strecke kannte, kam ihm die Fahrt
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