Ocean Rose. Erwartung (German Edition)
waren wir angekommen, wollte sie plötzlich wieder umdrehen und nach Winter Harbor zurückkehren. Sie war ganz besessen von dem Gedanken und wollte … oder konnte … mir keine Erklärung geben. Es war schon spät, und ich schlug vor, erst am nächsten Morgen zu fahren,doch sie bestand darauf, wir müssten sofort aufbrechen.« Er starrte aufs Wasser, das in kleinen Wellen gegen die Bootsrümpfe plätscherte. »Also sind wir losgefahren. Zurück in Winter Harbor, wollte sie auf der Stelle zu den Chione Cliffs.« Er schaute mich an. »Damals habe ich es nicht verstanden. Ich dachte, sie müsse sich damit etwas beweisen oder wollte ihre aufgestaute Wut loswerden. Aber jetzt ist mir klar, was wirklich geschehen ist.«
Ich folgte seinem Blick und sah Simon über die Schulter an. »Was meint er?«
Simon setzte sich mir gegenüber. »Weißt du noch, als Justine und Caleb rückwärts von den Klippen gesprungen sind und Justine sich das Bein verletzt hat?«
Ich nickte.
»In Zaras Tagebuch steht, die Bucht bei den Chione Cliffs ist so etwas wie die Höhle des Löwen. Das Wasser dort ist anders, nicht wie hier im See oder draußen im Meer. Es ist angefüllt mit der Essenz der Sirenen. Dort treffen sie sich, schwimmen zusammen, bekommen ihre Kinder, einige leben sogar ständig dort. Die Chione Cliffs sind der Ort, wohin sie ihre Opfer locken. Er gibt ihnen auch die Kraft, das Wetter zu kontrollieren. Und als Justine sich den Schnitt am Bein geholt hat – vielleicht hat eine der Sirenen nachgeholfen, oder es war wirklich nur ein scharfkantiger Felsen –, da ist dieses Wasser in ihren Blutkreislauf eingedrungen.«
»Von dem Moment an war alles zu spät«, vervollständigte ich seinen Gedanken.
»Sie haben Justine zurückgerufen«, bestätigte Simon. »Sobald sie das Sirenenwasser im Körper hatte, war sie ihnen ausgeliefert.«
»Deshalb ist sie gesprungen«, sagte Caleb leise. »Nicht weil sie wütend auf dich oder eure Eltern war, sondern weil sie ihr keine Wahl ließen.«
Jetzt hatte ich meine Antwort und wusste, was ich hatte wissen wollen.
Ich schaute von ihm fort in Richtung unseres Hauses. Die auf den See gerichteten Fenster waren alle dunkel. Es sah so leer aus, so einsam.
»Es gibt aber auch gute Neuigkeiten«, sagte Caleb nach einer Minute vorsichtig.
Ich drehte mich um und sah, wie Caleb eine kleine Metallflasche aus Simons Rucksack zog. Er drehte den Deckel auf, und eine dünne Nebelwolke kräuselte sich in den Himmel. Nachdem die Brüder einen Blick gewechselt hatten, hielt Caleb das Fläschchen über den Bootsrand und kippte eine winzige Portion durchsichtiger Flüssigkeit ins Wasser.
Ich klammerte mich an Simon fest, als das Boot einen scharfen Ruck machte und dann aufhörte, sich zu bewegen. Der Regen prasselte weiter auf den See nieder und ließ kleine Wellen ans Ufer klatschen, aber mein Boot rührte sich nicht. Genauso wenig wie Calebs. Meine Füße auf den dünnen Holzplanken wurden zunehmend kälter. Mit angehaltenem Atem lehnte ich mich in Simons Armen nach vorn, um über den Rand zu schauen.
»Wir stecken in Eis«, stieß ich hervor, und mein Atem gefror zu einer weißen Wolke. Eben noch waren unsere Boote dümpelnd aneinandergeprallt, und nun wurden sie von einem soliden weißen Block an Ort und Stelle gehalten.
»Wir müssen sie mit ihren eigenen Waffen schlagen«, erklärte Simon mit unbewegter Stimme. »Mit Hilfe der Wissenschaft können wir tun, was selbst Mutter Natur im tiefsten Winter nicht vermag.«
Ich drehte mich zu ihm um und wusste schon, was er als Nächstes sagen würde.
»Wir müssen das Meer von Winter Harbor einfrieren.«
K APITEL 23
J onathan Marsh, 17 J., und Mark Hamilton, 16 J., wurden ertrunken am südlichen Anlegesteg von Beacon Beach gefunden. Damit starben schon zwölf Personen bei einer Reihe unerklärlicher, plötzlicher Stürme, die Winter Harbor seit vier Wochen heimsuchen.« Caleb ließ die Zeitung sinken und starrte aus dem Fenster.
»Tut mir so leid, Cal«, sagte Simon nach einem Moment. »Du hast getan, was du konntest.«
»Denk daran, wie viele Leben du gerettet hast«, sagte ich und hatte Tränen in den Augen, die nicht nur den beiden getöteten Jungen, sondern auch Paige galten. »Weil Zara so sehr darauf aus war, dich zu bekommen, hat sie sich wochenlang kein anderes Opfer gesucht.«
Caleb antwortete nicht. Ich warf einen Blick auf die Uhr und dann auf Simon. Noch schien die Sonne am Himmel, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis die ersten
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