Ocean Rose. Erwartung (German Edition)
ich Paige über die Schulter einen dankbaren Blick zu. Als ich mich wieder umwandte, hatte Raina das Kleid unter einen Arm geklemmt und hielt mir mit der anderen Hand das Buch entgegen. »Danke«, sagte ich und nahm es.
»Ich kann wohl davon ausgehen, dass Paige dich mit ihren guten Nachrichten beglückt hat.«
»Sei nicht wütend«, meinte Paige. »Ich war so aufgeregt, dass ich es endlich jemandem erzählen konnte, und Vanessa ist eine gute Freundin. Sie wird nichts ausplappern.«
»Ich hoffe nur, das stimmt.« Sie betrachtete mich ohne den Ansatz eines Lächelns. »Diese Zeit ist sehr wichtig für Paige und unsere Familie. Sehr wichtig und sehr persönlich. Bestimmt verstehst du, dass eine Mutter ihre Tochter beschützen will. Deine Mutter würde das Gleiche für ihre Töchter tun, oder nicht?«
»Natürlich.« Mit brennenden Wangen schaute ich zu Boden.
»Zwar werden die Leute es sowieso irgendwann herausfinden«, fügte Paige hinzu, »aber eine Weile wollen wir es noch geheim halten. In Winter Harbor macht Klatsch innerhalb von drei Minuten die Runde. Und das Wichtigste ist: Jonathan weiß noch gar nicht Bescheid, und ich habe keine Ahnung, wie ich es ihm sagen soll.«
»Paige, mein Schatz, darüber haben wir doch schon gesprochen.«
Ich schaute zwischen den beiden hin und her. Die strenge Kühle war aus Rainas Stimme verschwunden, und sie klang liebevoll, fast mütterlich.
»Jonathan braucht davon überhaupt nichts zu wissen.« Raina durchquerte das Zimmer und setzte sich auf die Schlafcouch. »Ihr beide habt gerade so eine hübsche Romanze, warum willst du das verderben?«
»Ich verderbe gar nichts«, widersprach Paige und zog die Hand weg, als Raina sie ergreifen wollte.
»Aber was passiert, wenn er in ein paar Monaten aufs College geht?«, wollte Raina wissen. »Dann wird er vier Jahre lang fort sein. Oder glaubst du wirklich, er würde das aufgeben,um in Winter Harbor zu bleiben und ein Teenager-Vater zu werden?«
»Er bräuchte nichts aufzugeben«, erwiderte Paige mit schwankender Stimme. »Schließlich kann man einen Collegeabschluss auch per Abendschule machen. Und außerdem wird er nicht so darüber denken. Ich bin sicher, Jonathan versteht, dass er mehr gewinnt als verliert.«
»Aber ob seine Eltern der gleichen Meinung sind? Du weißt doch, dass seine Familie sehr verschieden von unserer ist.«
Paige starrte ihre Mutter an, zog sich die Decke bis ans Kinn und drehte sich zum offenen Fenster. »Nur weil Dad abgehauen ist, heißt das noch lange nicht, dass sich Jonathan genauso benimmt.«
»Du wirst dich besser fühlen, wenn du erst ein schönes Bad genommen hast«, versicherte Raina, als habe sie die spitze Bemerkung nicht gehört. Sie warf mir einen Blick zu. »Du findest wohl allein hinaus?«
Ich nickte.
»Vielen Dank, Vanessa«, sagte Paige und schenkte mir ein kleines Lächeln. »Ich rufe dich später an.«
Das Blut rauschte mir in den Ohren, als ich in den Flur trat und die Tür leise hinter mir schloss.
Vanessa …
Ich hastete den Korridor entlang und ignorierte die Stimme von oben. Jetzt war nicht die richtige Zeit dafür. Ein Risiko am Tag genügte mir. Ich hatte versucht, von Paige mehr über Zara zu erfahren, aber das hatte nicht funktioniert. Also hieß es nun, auf Plan B umzuschalten, wie immer der aussehen mochte.
»Vanessa?«
Ich stolperte über meine eigenen Füße. Wahrscheinlich hätte mich die Stimme einer lebenden Person weniger erschreckensollen als die meiner toten Schwester, aber Betty war eben nicht nur irgendeine Person.
Bitte, Nessa … Sie kann uns helfen …
Ich spürte ein beklemmendes Gefühl in der Brust, als ich am Anfang der Treppe stand. Was immer Betty zu sagen hatte, konnte eigentlich nur noch mehr Fragen aufwerfen … aber vielleicht würden die Fragen genügen, um mich auf eine Spur zu führen.
»Guten Morgen, Vanessa«, grüßte sie, als ich ihre Tür hinter mir schloss.
Ihre Hände ruhten auf der Stickerei in ihrem Schoß, und sie schien darauf zu warten, dass ich etwas sagte. Ich wiederum wartete darauf, dass Justine sich meldete. Falls sie wollte, dass ich mir von Betty Hilfe holte, wusste ich jedenfalls nicht, wo ich anfangen sollte.
»Du liest gerne?«, fragte sie schließlich.
»Was?«
»Paige hat dir ein Buch gegeben.«
»Oh.« Ich schaute auf meine Hand, die Paiges Ausgabe der Kompletten Stadtgeschichte von Winter Harbor umklammerte. »Stimmt. Hat sie.«
»Paige ist ein liebes Mädchen.« Aus Bettys Mund klang das so, als
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