Ocean Rose. Erwartung (German Edition)
entgegen, das er geschrieben hatte. Er lehnte sich zurück und presste eine zittrige Hand an den Mund. Nach einem Augenblick griff er danach. »Seite siebenundvierzig. Sie ist immer noch da.«
Er holte die Lilienblüte heraus und starrte sie so ehrfurchtsvoll an, als sei sie nach all der Zeit immer noch voller farbigem Leben. »Wo hast du das her?«, fragte er und drehte den Stengel gedankenvoll zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Paige hat es mir ausgeliehen.«
»Wenn Sie uns irgendetwas über Betty oder die Marchands erzählen können, das uns vielleicht hilft, diesen Wahnsinn zu stoppen, dann wären wir Ihnen wirklich sehr dankbar«, warf Simon dazwischen.
Oliver legte die Blüte zurück und schlug eine Seite am Ende des Buches auf. Nach einer Weile begann er, laut zu lesen:
»In Winter Harbors Ozean tummelt sich das Leben, und zahllose Edelrestaurants haben im Laufe der Jahre versucht, daraus finanziellen Vorteil zu ziehen. Doch niemand hatte annähernd den gleichen Erfolg wie Bettina Marchand, eine eingewanderte Kanadierin, die 1965 Bettys Fischerhaus eröffnete und sich sofort großer Beliebtheit erfreute. MissMarchands – mit erst vierundzwanzig Jahren schon gleichzeitig Köchin und Unternehmerin – sagt von sich selbst, sie habe ›keine klassische Ausbildung auf diesem Gebiet‹, was sie jedoch mit harter Arbeit und ›einem tiefen Verständnis und Respekt vor der See‹ ausgleicht, so dass ihr Restaurant in Winter Harbor bereits zu einer echten Institution geworden ist.«
»Das ist alles?«, fragte Caleb. »Sorry, aber dadurch wissen wir jetzt nicht mehr, als man aus jeder Touristenbroschüre erfahren kann.«
»Genau.« Oliver tätschelte das Buch. »Was ich hier reingeschrieben habe, war alles, was Betty veröffentlicht haben wollte. Ihr Restaurant war damals, als ich diesen ersten Band schrieb, schon so etwas wie eine lokale Legende. Deshalb fand ich, es habe ein ganzes Kapitel verdient. Aber daraus wurde nur ein einziger Absatz … mehr ließ sie mich nicht schreiben.«
»Wieso?«, fragte Simon. »Hat ihr unerwarteter Erfolg sie scheu gemacht?«
»Oh, sie war scheu, aber der Erfolg hatte nichts damit zu tun.«
Mein Kopf fuhr hoch, weil ganz in der Nähe ein Blitz einschlug und das Lampenlicht flackern ließ. Als ich den Blick wieder senkte, stellte ich fest, dass Oliver mich direkt ansah.
»Aus Respekt vor ihr habe ich niemandem erzählt, was ich euch jetzt erzählen werde. Und ich breche mein Schweigen nur, weil ihr selbst schon einiges wisst.« Er ließ den Blick zu Simon und Caleb wandern. »Selbst wenn euch nicht ganz klar ist, was diese Dinge zu bedeuten haben, seid ihr doch Tatsachen auf die Spur gekommen, die Betty immer so gut wie möglich geheim gehalten hat.«
Simon und ich setzten uns erwartungsvoll auf ein Sofa gegenüber vonOliver. Hinter uns lehnte sich Caleb an ein Bücherregal und verschränkte abwartend die Arme, um zu hören, was der alte Mann zu sagen hatte.
Als Oliver wieder zu sprechen begann, klang seine Stimme weniger düster. »Bei meiner ersten Begegnung mit Bettina Marchand ging sie gerade ihrer Lieblingsbeschäftigung nach, nämlich Schwimmen. Ich beobachtete sie beim Rückenkraulen in ihrem knallroten Badeanzug, und sie lächelte, als würde ein Geliebter ihr zuflüstern, wie wunderschön sie aussah. Man konnte ihr ansehen, dass sie nicht zur sportlichen Ertüchtigung schwamm, sondern einfach nur, weil es sich gut anfühlte.
Damals hatten wir den Juli 1965. Sie war vierundzwanzig, neu in der Stadt, und wurde von sämtlichen jungen Männern umschwärmt. Ich war sechsundzwanzig, hatte mein ganzes Leben in Winter Harbor verbracht und gehörte zu ihren Verehrern. Zu diesem Zeitpunkt war sie schon ein paar Monate in der Stadt gewesen, aber wir beide waren uns nie offiziell vorgestellt worden. Wäre es nach ihr gegangen, dann hätte auch diese Begegnung nicht stattgefunden.« Er lächelte. »Jetzt müsst ihr nicht denken, dass ich mich wie ein Stalker benahm oder mich versteckt hatte, um sie heimlich zu beobachten. Nein, ich war einfach zum Schwimmen ans Meer gekommen. Als ich sie entdeckte, wollte ich zuerst wieder gehen, um ihre Privatsphäre nicht zu verletzen … aber ich konnte einfach nicht. Sie sah zu bezaubernd aus.«
»Wurde sie wütend, als sie es bemerkt hat?«, fragte Caleb.
»Nein, denn sie hat es gar nicht bemerkt. Betty war sich der Aufmerksamkeit, die sie erregte, nie bewusst. Sie wollte keine Bewunderung und tat auch nichts, um sie absichtlich
Weitere Kostenlose Bücher