Ocean Rose. Erwartung (German Edition)
müsste ich meine Zweifel haben. »Sie ist noch jung. Sie macht Fehler, genau wie ihre Schwester und ihre Mutter es vor ihr getan haben. Aber sie will niemandem etwas zuleide tun.«
Ich konzentrierte mich darauf, ruhig und gleichmäßig zu atmen.
»Sie weiß nicht über dich Bescheid.«
Das Buch wollte mir aus der Hand rutschen, und ich umklammerte es fester.
»Auch nicht über Justine.«
Meine Blicke bohrten sich in ihre, die einen Punktüber meinem Kopf fixierten und unruhig hin und her zuckten.
»Und vor allem nicht über deine Mutter.«
»Meine Mutter?«, flüsterte ich.
Sie ließ die Augen langsam sinken, bis sie meine erreicht hatten. In der wolkigen Membran schien ein schwaches Licht aufzuglühen. »Aber darüber weißt du natürlich genauso wenig.«
Ich hielt den Atem an und konnte keinen Muskel rühren.
»Deine Mutter und Raina waren einmal engste Freundinnen.«
Ich trat einen Schritt zurück. Meine Hüfte stieß gegen einen kleinen Tisch und ließ eine Karaffe mit Eistee auf den Boden kippen.
Betty nahm ihre Stickerei wieder auf und meinte nach einem kurzen Moment: »Im Bad sind Handtücher.«
Ich legte das Buch auf einen Stuhl. Dankbar für die Atempause, eilte ich in das Zimmer weiter hinten. Dort zog ich ein Handtuch vom Regal über der Toilette und öffnete den Wasserhahn. Der Geruch von Salzwasser war so stark, dass mir ganz übel wurde, und ich musste mich abwenden. Ich hielt das Handtuch unter den Strahl und wrang es aus, bis es nur noch feucht war und nicht tropfte. Erst dann drehte ich den Kopf zum Waschbecken zurück und stellte fest, dass das Wasser aus dem Hahn nicht klar war.
Seine Farbe war ein durchscheinendes Schlammgrün und erinnerte an die Tiefe des Meeres.
»Ein sehr gutes Buch«, sagte Betty, als ich in ihr Zimmer zurückkam. Sie ließ eine Nadel auf ihrem neuesten Stickprojekt auf und ab tanzen und hatte nun offenbar ein anderes Gesprächsthema gefunden als Paige, mich und unsere Mütter. »Ein alter Freund von mir hat es geschrieben. Ich habe es früher einmal gelesen, vor langer Zeit.«
Ich wollte nur noch aus dem Haus kommen, also kniete ich mich hastig hin und begann, den Teppich zu rubbeln. »Welches Buch?«, fragte ich so gleichgültig wie möglich.
»Die Komplette Stadtgeschichte von Winter Harbor. Die Paige dir geliehen hat.«
»Sagen Sie …« Ich hörte mit dem Rubbeln auf und schaute über die Schulter. Das Buch lag noch immer unberührt auf dem Stuhl. »… kann es sein, dass Sie doch nicht blind sind?«
»Das letzte Mal, dass ich etwas gesehen habe, war vor siebenhundertdreiunddreißig Tagen.«
»Wie konnten Sie dann wissen, welches Buch mir Paige gegeben hat? Oder dass ich überhaupt eins in der Hand hatte?«
Sie verlagerte die Stickerei und begann an einer anderen Ecke. »Seite siebenundvierzig.«
Ich starrte sie an, dann stand ich auf und nahm das Buch vom Stuhl. Es war alt und offensichtlich schon viele Male gelesen worden. Der braune Umschlag war abgenutzt und an beiden Enden aufgefranst. Die Seiten waren vergilbt, und einige hatten sich sogar aus dem Einband gelöst und rutschten beim Blättern heraus. Seite dreiunddreißig bis achtunddreißig segelten zu Boden, und zwischen ihnen flatterte ein kleiner handgeschriebener Zettel nieder.
Für meine wunderschöne Bettina. Möge das Licht von Winter Harbor stets die Dunkelheit besiegen. Für immer und ewig, Dein Oliver.
»Ist es noch da?«
Ich löste den Blick von dem Zettel und blätterte zu Seite siebenundvierzig weiter, wo eine gepresste Lilienblüte perfekt erhalten zwischen dem Papier lag.
»Kannst du sie riechen?«
Die tote Blume hatte ihren Duft schon vor langer Zeitverloren, aber ich hob das Buch trotzdem an die Nase. Es roch nach altem Staub, genau wie die Stadtbücherei von Winter Habor. »Nein«, sagte ich.
»Schade.« Ihre Augen blickten mich an und wirkten klarer denn je.»Ich kann es.«
K APITEL 17
O liver Savage?«, fragte Caleb ungläubig, als wir zehn Minuten später zurück in den Ort fuhren. »Dieser nörgelige alte Mann war einmal die Liebe ihres Lebens?«
»Ich dachte, Betty sei krank«, warf Simon ein, »und zu schwach zum Reden.«
»Das erzählt Raina nur jedem, um peinliche Fragen zu vermeiden«, sagte ich. »Betty ist zwar nicht ganz gesund, aber sie hat kein Problem damit, sich jedes Mal mit mir zu unterhalten, wenn ich im Haus bin.«
»Und wie oft war das bisher?«, wollte Caleb wissen.
Ich antwortete nicht. In meinem Kopf (und meinem Magen) schien alles
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