Ocean Rose. Erwartung (German Edition)
Meerjungfrauen?«
Beim letzten Mal in der Bibliothek hatte Oliver argumentiert, dass Geschichte sich wiederholte und man herausfinden musste, was in der Vergangenheit geschehen war,um die mörderischen Rätsel der Gegenwart lösen zu können. Also hatte ich Werke über Verbrechen und Mord, Tod und Verderben erwartet … Sachbücher voller wahrer, historischer Bluttaten … so wie die Berichte über die lächelnden Todesopfer in den alten Ausgaben des Winter Harbor Herald, nur in noch größeren, grausameren Dimensionen.
»Les chanteuses de la mer?«, las ich laut den Titel des Buches vor, das Oliver zuletzt herauszog. Auf dem verblichenen roten Umschlag befand sich das Bild einer Frau, die den Arm aus dem Wasser in den Himmel reckte.
»Sängerinnen der See«, übersetzte Caleb mit grimmiger Stimme. »Französisch war das einzige Schulfach, das ich mochte«, setzte er hinzu, als Simon und ich ihn ungläubig ansahen.
Ich drehte mich zu Simon um, meinem wissenschaftlichen Skeptiker und Fels in der Brandung. »Ehrlich? Betty ist eine Art bösartig trällernde Meerjungfrau? Mit Schwimmhäuten zwischen den Zehen und Muschel-BH?« Ich versuchte, die Sache in einen Witz zu verwandeln, doch Simon machte keine Anstalten zu lachen. Er verdrehte auch nicht die Augen oder verwarf die Idee auf der Stelle.
Also wandte ich mich wieder dem Buch zu, das Oliver jetzt aufgeschlagen hatte. Ich übersprang den französischen Text, und mein Blick landete stattdessen auf einer Illustration. Das einzige Licht im Raum stammte von dem flackernden Feuer, deshalb konnte ich es zuerst nicht genau erkennen … aber als ein weiterer Blitz in der Nähe einschlug, sah ich das Bild so klar, als wäre es auf eine Kinoleinwand projiziert.
Ein Mann lag an einer Felsküste. Sein Köper war leblos, er hatte die Glieder von sich gestreckt und sah aus wie an den Strand gespülter Seetang. Vom Hals abwärts ließ das Bild einen grausamen, brutalen Tod erkennen. Vermutlich war erein Fischer, den der Sturm überrascht und aus seinem Boot gerissen hatte und der danach von den Wellen umhergeworfen worden war, bis sie ihn schließlich an Land geschleudert hatten.
Doch trotz seines tragischen Endes sah er vom Hals aufwärts so aus, als würde er diese Erfahrung jederzeit wiederholen wollen.
Denn der tote Fischer lächelte über das ganze Gesicht.
K APITEL 18
D as ist doch verrückt. Du musst zugeben, dass es verrückt ist.«
»Stimmt«, sagte Caleb, »aber trotzdem macht es Sinn.«
Simon starrte nur geradeaus, während er fuhr, und gab keinem von uns beiden recht.
»Raina mag ja seltsam sein, und Zara ist vielleicht fähig, unaussprechlich fiese Dinge zu tun, aber … Sirenen aus dem Meer? Wunderschöne Sagengeschöpfe, die Seeleute in den Tod locken?« Ich schüttelte den Kopf. »Wir sind hier nicht in der Odyssee. Das alles passiert tatsächlich, hier und jetzt, im wirklichen Leben. Wenn du sie als Serienkiller bezeichnen willst, okay. Aber zu behaupten, dass sie mit magischen Stimmen irgendwelche Typen ansingen, um auf Beutejagd zu gehen, ist doch purer Wahnsinn.«
»Vanessa, ich kann Zara überall hören.« Caleb klang regelrecht begeistert, als habe er nun endlich eine einleuchtende Erklärung gefunden. »Selbst wenn ich sie nicht sehen kann, höre ich sie immer noch. Wann immer Zara mich ruft, kann ich an nichts anderes mehr denken. Nicht mal daran, wie ich sie in Wirklichkeit hasse und dass ich mir eigentlich nur wünsche, sie würde weggehen und mich in Ruhe lassen. In diesen Momenten gibt es für mich nur noch Zaras Stimme und die Sehnsucht, bei ihr zu sein, obwohl mir normalerweise selbst hundert Meilen Abstand zu wenig sind.«
In Erinnerung sah ich die beiden wieder auf der Felsengruppeim Fichtenwald. Caleb hatte gleichzeitig erregt und abgestoßen gewirkt, als sie auf ihn zugekrochen war und ihren Körper an seinen gepresst hatte. Aber schließlich hatte er kurz zuvor seine Freundin verloren. Und Zara war nun einmal wunderschön, egal, was unter dieser Fassade lag. Das hieß, Caleb war einfach nur einsam und verletzt gewesen und hatte ein schlechtes Gewissen gehabt, weil er sich von einem anderen Mädchen angezogen fühlte.
»Du hast doch gehört, was Oliver gesagt hat. Genau das war die Vergangenheit, vor der Betty geflüchtet ist. Deshalb hat sie ihre Familie verlassen und konnte nicht mit Oliver zusammen sein.«
»Weil sonst die übrigen durchgeknallten, männerjagenden Weiber ihrer Familie aufgetaucht wären, um ihn
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