Ocean Rose Trilogie Bd. 3 - Erfüllung
mich am Arm fest, bis ich wieder senkrecht auf den Füßen stand, dann ließ sie mich los. »Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Ich war nicht sicher, ob du heute überhaupt im Restaurant bist.«
Aber immerhin wusste sie, dass ich bei Bettys Fischerhaus arbeitete. Da wir beide seit Monaten nicht miteinander gesprochen hatten, war klar, dass jemand anderer sie auf dem Laufenden gehalten haben musste … oder dass sie in meinen Kopf eingedrungen war, ohne dass ich es gemerkt hatte. Sofort versuchte ich, meine Gedanken zu dämpfen.
»Hast du kurz Zeit zum Reden?«, fragte sie.
Ich drehte mich um und warf einen Blick in die Gaststube. Natalie hatte sich auf meinen Stuhl gesetzt und schien mit Paige in ein lebhaftes Gespräch vertieft zu sein.
»Ja, schon«, antwortete ich. »Aber nicht hier.«
Sie trat zur Seite, damit ich vorausgehen konnte. Da ich möglichst schnell eine Antwort auf die Frage haben wollte, die ich gerade gestellt hatte, eilte ich aus der Tür, die Eingangstreppe hinunter und um das Gebäude herum. Ich nahm an, dass sie mir in kurzem Abstand folgte, aber dann erreichte ich den Bootssteg, und er schwankte nur unter meinen Schritten, nicht unter einem zweiten Gewicht. Ich drehte mich um und stellte fest, dass sie noch mehrere Meter entfernt war.
Ich schirmte weiterhin meine Gedanken ab, doch als ich Charlotte näher kommen sah, fühlten sie sich an wie spitze Pfeile, die mein Schutzschild durchdringen wollten. Ich hatte Charlotte nicht mehr gesehen, seit sie mich und Simon letzten Herbst vor den Sirenen gerettet hatte, die uns am Grund des Lake Kantaka festhielten. Damals hatte sie gesagt, dass sie zwar gern die verlorenen siebzehn Jahre aufholen und mich jeden Tag sehen würde, aber mir die Entscheidung überließ, wie unsere Beziehung aussehen sollte. Sie würde tun, was immer ich für richtig hielt: mich regelmäßig besuchen oder mir erst einmal Zeit lassen, um alles zu verarbeiten. Selbst wenn ich es für das Beste hielt, dass sie sich völlig aus meinem Leben heraushielt wie zuvor, als ich noch nichts von ihrer Existenz wusste und meine Sirenenmutter nur zufällig in einem Bostoner Café entdeckt hatte, wäre sie damit einverstanden. Charlotte war sich bewusst, dass ihre ständige Nähe für mich und meine Familie wahrscheinlich eine Überforderung sein würde. Sie sagte, unser Leben sei schon genug auf den Kopf gestellt worden, und vielleicht wollte ich einfach nur vergessen, was die letzten sechs Monate an Enthüllungen gebracht hatten. Aber sie würde immer für mich da sein, wenn ich sie brauchte, auch falls ich entschied, dass ich mein Leben ohne sie weiterführen wollte.
Damals entschied ich mich für diese einfache Lösung. Ein Teil von mir wollte alles über Charlotte wissen – und damit auch über mich selbst –, doch ein größerer Teil wollte lieber so tun, als seien wir uns nie begegnet. Ich war mir einfach nicht sicher, ob ich noch mehr überraschende Wahrheiten ertragen konnte. Außerdem hatte ich schließlich immer noch Zeit, meine Meinung zu ändern. Ein paarmal war ich schon kurz davor gewesen, wenn ich mich schlecht fühlte oder zum Beispiel nicht verstand, wie ein Mitschüler auf mich reagierte. Aber dann sah ich, wie meine Mom – die mich von Kindheit an als Mutter aufgezogen hatte – meinen Dad in die Arme nahm. Wie Dad ihr einen Kuss auf die Nasenspitze gab. Oder wie die beiden zusammen durch die Küche tanzten. Deshalb widerstand ich jedes Mal der Versuchung.
Ansonsten wäre Charlottes Auftauchen kaum so ein Schock gewesen. Vor Überraschung hatte ich mir nicht die Zeit genommen, sie am Empfangstresen näher zu betrachten, aber als sie nun auf dem Bootssteg näher kam, waren die körperlichen Veränderungen nicht zu übersehen. Vor sechs Monaten war sie schlank und hoch gewachsen gewesen, mit strahlenden blaugrünen Augen und langem, dickem Haar. Ihre porzellanweiße Haut war von makelloser Glätte gewesen, ohne eine Spur von Falten. Sie hatte nicht nur fantastisch ausgesehen, sondern sich so mühelos durch das Wasser des Sees bewegt wie eine junge Spitzensportlerin auf dem Höhepunkt ihrer Karriere.
Doch die Frau, die nun auf mich zukam, hatte einen gebeugten Rücken und bewegte sich leicht hinkend. Zwar funkelten ihre Augen noch immer lebendig, aber sie waren halb unter Schlupflidern verborgen. Die schwammige Haut in ihrem Gesicht schwabbelte ein wenig, und sie trug das Haar kurzgeschnitten, das mehr weiße als braune Strähnen hatte. Mit den
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