Ocean Rose. Verwandlung (German Edition)
Blick zu haben.
»Es steckt im Eis fest«, sagte Simon mit sanfter Stimme und stellte sich neben mich. »Also war es schon im Wasser, als der Hafen zugefroren ist.«
»Aber wieso hat es denn niemand an Land geholt? Alle anderen Boote, die damals im Wasser waren, wurden freigehackt und in den sicheren Hafen gebracht.«
»Montys Abschleppservice ist nicht billig. Vielleicht war es dem Besitzer nicht so wichtig. Vielleicht hatte er nichts dagegen, zu warten, bis das Eis geschmolzen ist.«
Mir war klar, dass er mich nur beruhigen wollte, und seine Argumente klangen logisch. Trotzdem überzeugten sie mich nicht.
»Ich würde gerne sicher sein.«
»Wie denn?«
»Indem wir da rübergehen.« Ich warf ihm ein kleines Lächeln zu. »Wir können so tun, als sei das nur ein weiteres Partyspiel wie Plankenlaufen.«
Er musterte das Ruderboot und dann den Rest des Hafens, berechnete offenbar die Eisdicke und die relative Gefährlichkeit des Unterfangens. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich Simon in diese Lage brachte. Wenn ich ihn um etwas bat, würde er sich lieber ein Bein ausreißen, als nein zu sagen. Andererseits wusste ich genau, dass ich wahrscheinlich keine Ruhe finden würde, bevor ich nicht sicher war, dass es sich bei diesem Ruderboot nicht um unseres handelte.
»Ein Stück weiter nördlich ist das Eis kaum angetaut«, sagte er. »Es sollte mein Gewicht tragen können.«
»Ich bin leichter«, widersprach ich.
»Aber ich bin kräftiger. Wenn ich einbreche, kann ich mich rausziehen.«
Wenn ich einbrach, konnte ich unter Wasser atmen, bis ich gerettet wurde. Doch davon wusste Simon nichts. Bevor ich mir einen anderen Grund ausdenken konnte, warum ich besser geeignet war, trat er auf mich zu und strich mir mit dem Daumen über die Wange.
»Was dir wichtig ist, das ist auch mir wichtig«, sagte er. »Bestimmt schaffe ich es in Rekordgeschwindigkeit hin und zurück.«
»Nein, warte …«
Doch da lief er schon den Kai entlang, sprang auf die Betonbefestigung und drängte sich durch das Gebüsch am Wasserrand. Dort verlangsamte er seinen Schritt und suchte auf dem Eis nach dem besten Weg. Plötzlich schoss mir ein Erinnerungsbild durch den Kopf und traf mich mit der Gewalt einer Gewehrkugel.
Ein Parkplatz. Das schwache Licht einer Straßenlaterne. Simon mit leerem Blick und hängenden Armen. Wehrlos von einer magischen Kraft angezogen, gegen die er keine Chance hatte.
Zara.
Panisch schüttelte ich mir das Bild aus dem Kopf und rannte los. »Simon!«, schrie ich. »Nicht!«
Doch er hörte mich nicht. Vielleicht hatte ich auch nur heiser geflüstert, statt zu schreien. Mein Herz hämmerte so laut, dass es alles andere zu übertönen schien. Auch bei meinem nächsten Warnruf warf Simon nicht einmal einen Blick über die Schulter. Vorsichtig wagte er die ersten Schritte auf das Eis.
Ich rannte schneller und achtete nicht darauf, dass meine Kehle trockener und meine Beine schwächer wurden. Weiße Punkte tanzten vor meinen Augen. Ich versuchte sie wegzuwischen, denn ich wollte Simon keine Sekunde aus den Augen verlieren. Er bewegte sich leicht und zielbewusst voran und schien völlige Kontrolle über sich zu haben.
Aber was war, wenn ich mich irrte und er in eine Falle tappte?
Das Ruderboot zu erreichen war dieses Risiko nicht wert! Noch einmal versuchte ich zu schreien, doch schon der Versuch war zu viel für meine ausgetrockneten Stimmbänder. Ich drückte die Hand auf meine schmerzende Kehle, stürmte nach rechts aus dem Gebüsch und auf das Eis.
Die plötzliche Kälte unter meinen Füßen brachte mich zum Stehen. Hier hatte die Luft Minustemperaturen, und mein Atem gefror zu kleinen, flüchtigen Wolken. Eigentlich wollte ich nach unten schauen, um festzustellen, ob jemand (oder etwas) mich durch das Eis anstarrte, aber ich brachte es nicht über mich. Ich hatte zu viel Angst davor, was ich vielleicht sehen könnte.
Stattdessen hielt ich den Blick auf Simon gerichtet. Inzwischen war er schon auf halbem Weg zum Ruderboot, aber wenn ich in schrägem Winkel auf ihn zurannte, konnte ich ihn immer noch einholen. Da ich unerträglichen Durst hatte, beugte ich die Knie, ohne meine Kopfhaltung zu ändern, und hockte mich auf das Eis. Ich drückte beide Handflächen auf die gefrorene Fläche, die von der Wärme meiner Haut zu tauen begann. Salzwasser schoss durch meine Poren, und es fühlte sich an wie ein Stromschlag, der meinen inneren Akku auflud.
Die Energie reichte, um meinen Füßen neuen Schwung zu
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