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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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wenigen Schritte machen – aufstehen, die Augen geschlossen halten, die Tür finden, sie öffnen – aufstehen, durchatmen und sich dann vom Bett lösen – aufstehen, nicht sterben – dort aufstehen – aufstehen. Welch ein Grausen. Welch ein Grausen.
    Es waren nicht wenige Meter. Es waren Kilometer, Ewigkeiten: genauso viele wie die, die sie von ihrem eigentlichen Zimmer trennten, von ihren Sachen, von ihrem Vater und von dem Ort, der ihr gehörte. Alles war so weit entfernt. Alles war verloren.
    So gewinnt man keine Schlachten. Elisewin gab auf.
    Als läge sie im Sterben, öffnete sie die Augen.
    Sie begriff nicht gleich.
    Das hatte sie nicht erwartet.
    Es war hell im Zimmer. Ein mattes Licht nur. Aber überall. Warm.
    Sie drehte sich zur Seite. Auf einem Stuhl neben dem Bett saß Dira, ein dickes Buch aufgeschlagen auf den Knien und einen Kerzenleuchter in der Hand. Eine brennende Kerze. Das Flämmchen in der Finsternis, die keine mehr war.
    Elisewin blieb still liegen, den Kopf ein wenig vom Kissen abgehoben, und schaute. Es schien woanders zu sein, dieses Mädchen, und dennoch war es da. Die Augen fest auf die Buchseiten gerichtet, berührten ihre leicht schaukelnden Füße nicht einmal den Boden: schaukelnde Füßchen, die mit zwei Beinen und einem Röckchen verbunden waren.
    Elisewin ließ ihren Kopf auf das Kissen zurücksinken. Sie sah, wie das Flämmchen der Kerze ruhig brannte. Und wie der Raum um sie herum sanft schlief. Sie fühlte sich müde, eine wunderbare Müdigkeit. Sie konnte gerade noch denken:
    »Man hört das Meer gar nicht mehr.«
    Dann schloß sie die Augen. Und schlief ein.
    Am Morgen sah sie den Kerzenleuchter einsam auf dem Stuhl stehen. Die Kerze brannte noch. Sie schien gar nicht heruntergebrannt. Als hätte sie über eine Nacht gewacht, die nur einen Augenblick lang gedauert hatte. Ein unsichtbares Flämmchen im breiten Licht, das vom Fenster her den neuen Tag in ihr Zimmer brachte.
    Elisewin stand auf. Sie blies die Kerze aus. Von allen Seiten her war das Spiel eines unermüdlichen Musikers zu hören. Ein grandioses Getöse. Ein Schauspiel. Da war es wieder, das Meer. 
     
    Plasson und Bartleboom verließen an dem Morgen gemeinsam das Haus. Jeder mit seinen Instrumenten: Plasson mit Staffelei, Farben und Pinseln, Bartleboom mit Heften und verschiedenen Meßgeräten. Man hätte meinen können, sie kämen vom Speicheraufräumen bei einem verrückten Erfinder. Der eine in Schaftstiefeln und Anglerjacke, der andere im Forscheranzug, mit einer Wollmütze auf dem Kopf und fingerlosen Handschuhen, wie Pianisten sie tragen. Womöglich war der Erfinder nicht der einzige Verrückte in der Gegend dort.
    Eigentlich kannten sich Plasson und Bartleboom gar nicht. Sie waren sich nur ein paarmal in einem Flur in der Pension oder im Speiseraum über den Weg gelaufen. Wahrscheinlich wären sie nie gemeinsam zum Strand gegangen, jeder an seine Arbeitsstätte, wenn Ann Deverià das nicht beschlossen hätte.
    »Es ist verblüffend. Aber wenn jemand Sie beide zusammenbauen würde, käme ein einziger, perfekter Verrückter dabei heraus. Meiner Ansicht nach fragt sich Gott, das große Puzzle vor der Nase, immer noch, wo die beiden Teile eigentlich geblieben sind, die so gut zusammenpaßten.«
    »Was ist ein Puzzle?« fragte Bartleboom in der gleichen Sekunde, in der Plasson fragte:
    »Was ist ein Puzzle?«
    Am nächsten Morgen marschierten sie am Meeresufer entlang, jeder mit seinen Instrumenten, doch gemeinsam in der täglichen Mühsal, hin zu ihren widersinnigen Pflichten.
    Plasson war in den vergangenen Jahren zu Geld gekommen, weil er der begehrteste Porträtmaler der Hauptstadt geworden war. Man konnte wohl sagen, daß es in der ganzen Stadt keine einzige raffgierige Familie gab, die nicht einen Plasson im Hause hätte. Porträts, wohlgemerkt, ausschließlich Porträts. Landbesitzer, kränkelnde Gattinnen, aufgeblasene Söhne, eingefallene Großtanten, rotwangige Industrielle, heiratsfähige Damen, Minister, Geistliche, Primadonnen der Oper, Militärs, Dichterinnen, Geiger, Akademiker, Konkubinen, Bankiers, Wunderknaben: entsprechend gerahmt schauten von den gut situierten Wänden der Hauptstadt Hunderte von betroffenen Gesichtern herab, die unausweichlich veredelt waren durch das, was in den Salons »die Hand Plassons« genannt wurde: eine merkwürdige stilistische Charakterisierung, die man ansonsten wohl in »Talent« übersetzen könnte, ein in der Tat außerordentliches, einmaliges Talent, dank

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