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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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Hügel
    in den Augen
    und bei mir.
    In saecula saeculorum
    ist dies mein Platz.
    Alles ist jetzt
    viel einfacher
    geworden.
    Einfacher
    ist
    nun
    alles.
    Was noch zu tun bleibt, 
    werde ich selbst tun können.
    Wenn etwas gebraucht wird, 
    weißt Du, wo Pluche, 
    der Dir sein Leben
    verdankt, 
    zu finden ist.
     
    Möge es davonschweben, 
    dieses Gebet, 
    mit der Kraft der Worte
    über den Käfig der Welt hinaus, 
    bis wer weiß wohin.
    Amen.

3. Ann Deverià
     
    Lieber André, meine geliebter Liebster von vor tausend Jahren, das Mädchen, das Dir diesen Brief überreicht hat, heißt Dira. Ich habe ihr aufgetragen, ihn Dir zum Lesen zu geben, sobald Du in der Pension eintriffst, bevor sie Dich zu mir heraufschickt. Bis zur letzten Zeile. Versuche nicht, sie anzulügen. Dieses Mädchen kann man nicht anlügen.
    Setz Dich also hin und hör mir zu.
    Ich weiß nicht, wie Du mich finden konntest. Dieses hier ist ein Ort, den es fast gar nicht gibt. Und wenn du nach der Pension Almayer fragst, schauen die Leute dich erstaunt an und wissen nichts davon. Wenn mein Mann für meine Genesung einen unerreichbaren Winkel in der Welt gesucht hat, dann hat er ihn gefunden. Weiß Gott, wie auch Du ihn finden konntest.
    Deine Briefe habe ich erhalten, und es war nicht leicht, sie zu lesen. Die Wunden der Erinnerung werden schmerzlich aufgerissen. Wenn ich mich hier weiter nach Dir gesehnt und immer noch auf Dich gewartet hätte, wären Deine Briefe betörende Glückseligkeit gewesen. Doch dies hier ist ein merkwürdiger Ort. Die Wirklichkeit verschwimmt, und alles wird Erinnerung. Selbst Du hast nach und nach aufgehört, Sehnsucht zu sein, und bist Erinnerung geworden. Deine Briefe sind bei mir angekommen wie Botschaften, die eine nicht mehr existierende Welt überlebt haben.
    Ich habe Dich geliebt, André, und ich kann mir nicht vorstellen, wie man jemanden mehr lieben könnte. Ich hatte ein Leben, das mich glücklich machte, und ich habe zugelassen, daß es in Scherben ging, nur um bei Dir zu sein. Nicht aus Langeweile oder aus Einsamkeit habe ich Dich geliebt oder aus einer Laune heraus. Ich habe Dich geliebt, weil die Sehnsucht nach Dir stärker war als jedes Glück. Und ich wußte, daß das Leben dann doch nicht groß genug ist, alles zusammenzuhalten, was die Sehnsucht in der Lage ist sich vorzustellen. Aber ich habe nicht versucht, mir Einhalt zu gebieten, und auch Dir nicht. Ich wußte, daß das Leben es tun würde. Und so kam es auch. Es ist mit einem Schlag auseinandergebrochen. Überall lagen Scherben, und sie schnitten wie Klingen.
    Dann bin ich hierhergekommen. Und das ist nicht leicht zu erklären. Mein Mann dachte, es sei ein Ort, um zu genesen. Aber genesen ist ein zu dürftiges Wort für das, was hier geschieht. Und ein zu einfaches. Dies ist ein Ort, an dem du von dir selbst Abschied nimmst. Das, was du bist, gleitet mehr und mehr von dir ab. Und du läßt es Schritt für Schritt hinter dir, an diesem Ufer, das die Zeit nicht kennt und nur einen einzigen Tag erlebt, immer den gleichen. Die Gegenwart verschwindet, und du wirst Erinnerung. Du gleitest weg von allem, von den Ängsten, den Gefühlen, den Sehnsüchten: Du verwahrst sie wie abgelegte Kleider im Schrank einer unbekannten Weisheit und eines unverhofften Friedens. Kannst Du mich verstehen? Kannst Du verstehen, daß dies alles – schön ist?
    Glaub mir, es ist nicht nur eine Art und Weise, um leichter zu sterben. Ich habe mich nie lebendiger gefühlt als jetzt. Aber es ist anders. Das, was ich bin, ist schon geschehen: und lebt hier und jetzt in mir wie ein Schritt in einem Fußstapfen, wie ein Klang in einem Echo und wie ein Rätsel in seiner Antwort. Es stirbt nicht, das nicht. Es gleitet hinüber auf die andere Seite des Lebens. Mit einer Leichtigkeit, die tänzerisch anmutet.
    Es ist eine Art und Weise, alles zu verlieren, um alles zu gewinnen.
    Wenn es Dir gelingt, das alles zu verstehen, wirst Du mir glauben, wenn ich Dir sage, daß es mir unmöglich ist, an die Zukunft zu denken. Die Zukunft ist ein Begriff, der sich von mir losgelöst hat. Sie ist unwichtig. Sie bedeutet nichts mehr. Ich habe nicht mehr die Augen, sie zu sehen. In Deinen Briefen sprichst Du so oft davon. Mir fällt es schwer, mich zu erinnern, was das bedeutet. Zukunft. Meine ist schon vollständig da, nämlich jetzt. Meine Zukunft wird die friedliche Ruhe einer regungslosen Zeit sein, die die Augenblicke sammelt, um sie einen nach dem anderen übereinanderzusetzen, als seien

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