Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
nicht von Ihrer Familie abgeholt worden? Schließlich haben sie Sie fast ein Jahr lang nicht gesehen, Ihr Bruder, Ihre Schwester, sogar Ihre Mutter – warum sind sie nicht gekommen?«
Klein nahm die Hände von der Brust und legte sie auf die Knie, so daß sich seine Schultern hoben und sein Oberkörper sich streckte. Michael wartete.
»Das war eine eher komplizierte familiäre Abmachung. Wir haben ausgemacht, daß sie am Sabbat zu meiner Mutter kommen. Das war am bequemsten, ich mag anderen nicht zur Last fallen.«
»Sind Sie sicher, daß das der Grund ist?«
»Was soll das heißen? An was für einen anderen Grund denken Sie?«
»Sie hätten sich Bewegungsfreiheit verschaffen können, zum Beispiel«, sagte Michael leise, und in seinem Inneren kämpften widersprüchliche Wünsche. Er soll lügen, dachte er, er soll weiterlügen, dann kann ich wütend werden. Aber zugleich wünschte er, der andere solle nicht lügen, er solle so sein wie vor einigen Stunden, ein aufrechter, guter Mensch.
Klein schwieg.
»Wann genau sind Sie in Rosch-Pina angekommen, bei Ihrer Mutter?« stellte Michael schließlich die Frage, vor der er sich fürchtete.
Klein verschränkte wieder die Arme vor der Brust. »Ich habe es Ihnen schon gesagt«, sagte er und preßte die Lippen zusammen.
Michael wartete, aber Klein schwieg.
»Wir wissen, daß Sie am Donnerstag abend nicht dort waren«, sagte Michael schließlich. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß Klein log. »Wann genau sind Sie dort angekommen?«
Nach einer Ewigkeit sagte Klein: »Es spielt keine Rolle, wann ich angekommen bin.«
Das Schweigen dauerte lange. Michael schaute Klein direkt in die Augen, und Klein stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Erklären Sie mir, warum das keine Rolle spielt?«
»Weil es nichts mit der Sache zu tun hat«, sagte Klein und hob den Kopf. »Sie müssen mir glauben, daß es nicht das geringste mit dem Mord zu tun hat.«
»Professor Klein«, sagte Michael und fühlte, wie der Zorn in ihm aufstieg, »Sie müssen mir schon etwas mehr bieten, damit ich Ihnen glauben kann. Wann genau sind Sie angekommen, und warum spielt das keine Rolle?«
»Ich bin am Freitag gegen Abend in Rosch-Pina angekommen, und ich sage Ihnen, daß das nicht zur Sache gehört, warum glauben Sie mir nicht?«
Später, als er die Aufnahme abhörte, stellte Michael den wütenden Ton in seiner Stimme fest, etwas, was ihn verriet und beschämte, und erst da fiel ihm auf, wie verletzt er sich gefühlt hatte.
»Professor Klein«, sagte er und betonte jedes Wort, »ich untersuche einen Mord, zwei Morde. An einem jungen Mann, den Sie gerne mochten und mit dem Sie eng verbunden waren, und an einem Mann, der Ihnen viele Jahre nahegestanden hat. Ich bitte Sie!«
Klein wischte sich mit der Hand über die Stirn, dann schaute er ihn wieder an, direkt, mit weit geöffneten Augen, die mehr als alles andere ernst und traurig waren.
»Schade, daß Sie mir nicht vertrauen«, sagte er dann.
»Das ist keine Frage von Vertrauen, ganz zu schweigen davon, daß Sie schon einmal gelogen haben. Es geht um Tatsachen. Ihre Mutter hat gelogen, warum haben Sie Ihre Mutter dazu gebracht, zu lügen? Alles, was Sie sagen, ist nicht wichtig, wenn ich keine Fakten habe. Was heißt das schon, ob ich Ihnen vertraue? Zuneigung, Wertschätzung, das alles bedeutet nichts, wenn ich keine Fakten habe. Sie waren es, Sie haben mir nicht vertraut, wenn wir schon von Vertrauen sprechen.«
Klein sah aus, als denke er über das nach, was er gerade gehört hatte. Dann sagte er: »Sie haben recht. Aber wenn ich es Ihnen erzählt habe, werden Sie sehen, daß das alles nichts mit dem Fall zu tun hat, überhaupt nichts.«
Wieder wartete Michael, er drängte nicht mehr. Endlich sagte Klein: »Aber es muß unter uns bleiben, verstehen Sie? Es muß. Versprechen Sie mir das?«
Michael nickte.
»Sie versprechen es?« fragte Klein, und diese kindliche Naivität erstaunte Michael. Er dachte an Elfandari, der im Nebenzimmer dem Gespräch lauschte, an Balilati und Eli Bachar, die ihm ohne Zweifel bald Gesellschaft leisten würden, an die Sitzungen der Sonderkommission, an die sauber getippte Abschrift des Gesprächs, die Zila morgen früh auf seinen Tisch legen würde, und sagte: »Ich verspreche es.« Aus irgendeinem Grund wollte er die übliche Formulierung nicht verwenden: »Vorausgesetzt, die Angelegenheit hat wirklich nichts mit dem Fall zu tun!«
»In die Sache
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